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19.09.2025
Prof. em. Dr. Gerhard Kaminski
Der Fachbereich Psychologie gratuliert Prof. em. Dr. Gerhard Kaminski zum 100. Geburtstag!
Gerhard Kaminski wurde am 19. September 1925 in Steinau an der Oder geboren. Sein Abitur machte er in Berlin und absolvierte dort anschließend ein Psychologiestudium, zuerst an der Humboldt-Universität, dann an der Freien Universität, das er 1952 mit dem Diplom abschloss. An der FU promovierte er 1958 zum Thema Betrachtungen über die theoretischen Grundlagen psychologischen Diagnostizierens, 1959 unter dem Titel Das Bild vom Anderen publiziert, und habilitierte sich 1968 mit der Habilitationsschrift Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation. Entwurf einer integrativen Theorie psychologischer Praxis am Individuum, in der er eine handlungstheoretische Grundlegung verhaltenstherapeutischer Konzepte und Maßnahmen entwickelte.
Handlungstheoretische Ansätze bildeten auch einen Schwerpunkt seiner Forschungsarbeiten, nachdem er 1968 als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Allgemeine und Ökologische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Tübingen berufen wurde. Unter anderem beschäftigte er sich in diesem Zusammenhang mit psychologischen Fragen des Leistungssports, befasste sich aber gleichermaßen auch mit Alltagshandlungen. Neben Befragungen und Beobachtungen machte er sich auch selbst zum Untersuchungsgegenstand, wobei er Selbstbeobachtung mit Gedankenprotokollen verknüpfte, die er auf tragbaren Kassettenrecordern festhielt - sei es beim Skilaufen oder beim Stocherkahnfahren auf dem Neckar.
Im Zuge seiner Forschungen erkannte Gerhard Kaminski die zentrale Rolle der unmittelbaren situativen Umgebung für menschliches Verhalten, Denken und Fühlen. Bereits die Denomination seines Lehrstuhls als Allgemeine und Ökologische Psychologie signalisierte seine Hinwendung zu Themen der Umweltpsychologie, verstanden als psychologisch fundierte Analyse des Wechselspiels von Mensch und Umwelt. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Psychologen - Carl-Friedrich Graumann, Lenelis Kruse, Urs Fuhrer - bildete er Kern und Vorhut einer Forschungsrichtung, die in den vergangenen Jahren einen immensen internationalen Aufschwung erlebt hat. Unabdingbare Grundlage der ökologischen Psychologie war für Gerhard Kaminski eine systematische, psychologisch relevante Beschreibung der Umgebungsbedingungen, für die er in Roger Barkers Behavior Setting Theory einen passenden theoretischen Rahmen sah. Danach gliedert sich der kontinuierliche Verhaltensstrom von Personen in eine Serie meist sozialer, raumzeitlich abgegrenzter Ereignisse, die an entsprechend räumlich organisierten Orten stattfinden (bspw. einem Klassenzimmer, einem Sportstadion, einem Gerichtssaal oder einem Ladengeschäft), eine Anzahl von Verhaltensrollen umfassen (bspw. Dozent und Studierende), die impliziten Normen und Verhaltensprinzipien gehorchen und dadurch einen geregelten und vorhersagbaren Ablauf des Geschehens gewährleisten. In diesem Rahmen widmete sich Gerhard Kaminski einer Reihe grundlegender Fragen, insbesondere nach der Notwendigkeit einer Praxeologie, das heißt der systematischen Nutzung solcher Ansätze für die Analyse des praktischen Berufshandelns von Psychologen sowie nach einer "Psychologisierung" des Barkerschen Konzepts durch Verknüpfung des von außen beobachtbaren Verhaltensstroms (stream of behavior) mit dem nur introspektiv zugänglichen Bewusstseinsstrom (stream of conciousness).
In seiner Zeit am Psychologischen Institut in Tübingen war Gerhard Kaminski ein hoch engagierter Dozent und Kollege. In einer Vielzahl von Lehrveranstaltungen vermittelte er eine Sichtweise der Allgemeinen Psychologie, in der kognitive Prozesse höherer Ordnung - Handeln, Denken und Problemlösen - einen zentralen Stellenwert hatten. Gleichzeitig eröffnete er in Seminaren und Praktika ebenso wie in den beliebten ökopsychologischen Exkursionen einen praxisnahen Zugang zu ökologisch-psychologischen Berufsfeldern wie Architektur-psychologie und Stadtplanung. Die Schwierigkeiten des Perspektivenwechsels hin zu einer naturwissenschaftlich geprägten Auffassung der Psychologie, die Studierende in den ersten Semestern erfahren, wurden von ihm nicht nur wahrgenommen, sondern auch theoretisch in dem weiterhin aktuellen und lesenswerten Aufsatz Studieren als Handeln und als Trauern aus dem Jahr 1974 reflektiert. Ebenso war Gerhard Kaminski ein hoch geschätzter Kollege. Nicht nur war er aufmerksamer Zuhörer bei allen öffentlichen Vorträgen, die am Psychologischen Institut und anderswo stattfanden, sondern er hatte es sich gleichzeitig zum Prinzip gemacht, den Referenten seine an die Vorträge anschließenden Überlegungen, Kritikpunkte und Anregungen mitzuteilen, sei es schriftlich oder im persönlichen Gespräch.
Trotz seiner Emeritierung im Jahr 1990 blieb Gerhard Kaminski weiterhin in der Forschung aktiv. Er war weiterhin häufig in seinem Büro zu finden, besuchte Vorträge, veröffentlichte wissenschaftliche Beiträge und pflegte bis ins hohe Alter die Tradition des öko-psychologischen Kolloquiums im Kreis seiner ehemaligen Kollegen und Mitarbeiter - genannt seien Peter Day, Rudolf Günther und Christian Munz. Wissenschaftlich rückte in den letzten Jahren immer stärker die Analyse des Bewusstseinsstroms ins Zentrum seines Interesses, dem er mittels akribisch dokumentierter Introspektion auf der Spur war.
Gerhard Kaminski hat mit seinen Beiträgen zur Handlungstheorie, Sportpsychologie, ökologischen Psychologie und Bewusstseinspsychologie die deutschsprachige Psychologie nachhaltig geprägt. Wir wünschen ihm zu seinem einhundertsten Geburtstag alles Gute und viele weitere Lebensjahre voller wissenschaftlicher Neugier.
Prof. Dr. Stephan Schwan (Fachbereich Psychologie/Leibniz Institut für Wissensmedien)
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