24.08.2018
Pressemitteilung: "Vorsicht, das lief letztes Mal schief"
Von links nach rechts, von oben nach unten: Bei Augenbewegungen können auch bei solchen einfachen Aufgaben kleine Abweichungen entstehen. Wissenschaftler um Professor Peter Thier und Marc Junker am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen berichten nun von Hirnsignalen, die auf diese Fehler hinweisen.
Sie werden von Nervenzellen im Kleinhirn ausgesendet, und zwar kurz bevor wir eine Augenbewegung erneut ausführen. Das ermöglicht uns, die Bewegung anzupassen und zu lernen. Mit der Studie klären die Forscher die Funktion der sogenannten Kletterfasersignale, welche bislang umstritten war. Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift PLOS Biology erschienen.
„Um eine Bewegung optimal durchzuführen, kombiniert das Kleinhirn Informationen unterschiedlicher Art“, erklärt Studienleiter Thier. Sie laufen in den sogenannten Purkinjezellen zusammen. Infolgedessen senden die Zellen selbst zwei verschiedene Signale aus. Das erste ist ein hochfrequentes Signal, das Informationen über die Position, Geschwindigkeit und Beschleunigung einer Bewegung weiterleitet. Das zweite ist ein niederfrequentes Signal, das entsteht, wenn die Zellen Informationen aus den sogenannten Kletterfasern erhalten. „Bei dem Kletterfasersignal war bisher unklar, ob es sich um ein Fehlersignal handelt, das Abweichungen in dem durchgeführten Bewegungsablauf signalisiert – oder ob es ein ‚Gedächtnissignal‘ ist, das zeigt, wieviel in einer neuen Situation bereits gelernt wurde“, so Thier.
Um die Aufgabe des Kletterfasersignals zu entschlüsseln, maßen die Forscher die Aktivität einzelner Purkinjezellen im Gehirn von Rhesusaffen. Diese verfolgten dabei einen Punkt auf einem Bildschirm, der mit einem bestimmten Abstand von der Mitte nach oben, unten, links oder rechts sprang. Der Punkt war so programmiert, dass der Abstand sich hin und wieder zufällig veränderte. In diesen Durchgängen blieb das Blickziel nicht dort, wo der Affe es erwartete, sondern es verlagerte sich etwas nach außen oder nach innen. Als Folge landeten seine Augen nicht mehr auf dem Ziel, sondern leicht daneben: Ein Bewegungsfehler war ausgelöst. Mit diesem Versuchsaufbau konnten die Wissenschaftler klären, unter welchen Bedingungen und in welcher Form das Kletterfasersignal entsteht.
„Wir sahen, dass das Kletterfasersignal zum einen in dem Moment gesendet wird, in dem ein Bewegungsfehler stattfindet. Es ist also ganz klar ein Fehlersignal“, erklärt Erstautor Junker. Die Wissenschaftler be-obachteten das Signal aber noch zu einem anderen Zeitpunkt. Kurz bevor eine Augenbewegung erneut ausgeführt wird, wird es ebenfalls gesendet – und zwar abhängig von dem Fehler, der in der vorherigen, identischen Bewegung gemacht wurde. „Gemäß dem Spruch ‚Vorsicht, das lief letztes Mal schief‘ erinnert sich das Kleinhirn auf diese Weise an vergangene Fehler“, erläutert Junker. Dadurch könne die aktuelle Bewegung direkt angepasst und verbessert werden.
Das Kletterfasersignal erfüllt also beide zugeschriebenen Rollen und ist Fehler- und Gedächtnissignal zugleich. „Jede Art von Bewegung erfordert ein Höchstmaß an Präzision und Verlässlichkeit. Diese kann nur aufrechterhalten werden, wenn stets auch die kleinsten Unzulänglichkeiten erfasst und genutzt werden, um zukünftige Fehler zu vermeiden“, so Thier.
Patienten, deren Kleinhirn aufgrund Multipler Sklerose, Schlaganfällen oder Hirntumoren geschädigt ist, besitzen diese Fähigkeit nicht oder nur eingeschränkt. „Eine Ataxie ist die Folge: Die Betroffenen können sich zwar noch bewegen, sind jedoch unsicher und wenig präzise. Das hat erhebliche Auswirkungen auf ihren Alltag“, berichtet Thier. Neben Augenbewegungen gehört auch das Heben einer Tasse, Zähneputzen, Tastaturschreiben oder Sprechen zu den Bewegungen, die vom Kleinhirn kontrolliert werden. Derzeit können Ataxien nicht behandelt werden. Nur ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie das Kleinhirn Bewegungen optimiert, ermöglicht langfristig die Entwicklung effektiver Rehabilitationsmaßnahmen. Für die Wissenschaftler keine leichte Aufgabe: „Das Kleinhirn ist sehr komplex und alles andere als klein – es enthält wesentlich mehr Nervenzellen als der gesamte Rest unseres Gehirns“, sagt Thier.
Organization:
- Hertie Institute for Clinical Brain Research
- Werner Reichardt Centre for Integrative Neuroscience
Contact: Prof. Dr. Hans-Peter Thier