Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Freiheit, die wie genau gemeint ist? Verhältnisbestimmungen von Freiheit und Verantwortung in aktuellen Debatten um Wissenschaft und Ethik

by Thomas Potthast

26.03.2025

„Freiheit“ wird „Ethik“ in der Wissenschaft oft so gegenübergestellt, als wenn ein Nullsummenspiel bestünde: Mehr der einen bedeute weniger der anderen. Solche Ideen finden sich sogar in Kontexten, die ansonsten ausgesprochen wichtige Impulse für aktuelle Debatten um Wissenschaftsfreiheit bieten. Statt sowohl einen sinnvollen Freiheits- als auch Ethikbegriff zu halbieren, sollte dagegen die dialektische Ermöglichungsfunktion von Ethik für Freiheit (in) der Wissenschaft betont werden. 

Eine der wichtigsten Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft ist und bleibt: Freiheit! Darauf sollten sich die meisten Beteiligten aktueller Debatten einigen können, die ansonsten heterogen und von Antagonismen geprägt sind angesichts vieler tatsächlicher [1] und einiger eher gefühlter Bedrohungen der Wissenschaft. Mit Blick auf 75 Jahre „unser Grundgesetz“ und 35 Jahre „Friedliche Revolution“ hat das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung für 2024 das „Wissenschaftsjahr Freiheit“ ausgerufen. Dass Wissenschaftsfreiheit etwas mit Ethik zu hat, sollte selbsterklärend sein. Doch Ethik und Freiheit der Wissenschaft werden oft als Gegensätze, mindestens als Spannungsverhältnis, konstruiert. Diese dualistische oder antagonistische Sichtweise soll im vorliegenden Beitrag in der gebotenen Kürze analysiert, kritisiert und revidiert werden. Vielmehr widersprechen sich Freiheit und ethisch reflektierte Verantwortung nicht, und exzellente Wissenschaft muss dies als ureigene Aufgabe verstehen und umsetzen.

Ausgangpunkt dafür ist der 2022 vorgelegte „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ der Universität Hamburg. Er behandelt in ausgesprochen lesens- und bedenkenswerter Weise konzise zentrale Aspekte, die hier leider nicht umfassend gewürdigt werden können. Der Kodex besteht aus einer Präambel und elf Grundsätzen. Verweise auf Ethik finden sich dabei in mehreren Grundsätzen, die in der Reihenfolge des Auftretens betrachtet werden. Der Kodex verficht an einigen Stellen – geradezu beispielhaft – eine weit verbreitete Lesart, gemäß derer „die Ethik“ fast ausschließlich gegen Freiheit ins Spiel gebracht wird. Dies allerdings halbiert sowohl den Freiheits- als auch den Ethikbegriff. 

Sehr richtig und angemessen werden in der Präambel und im Grundsatz I. „Wissenschaftsfreiheit als individuelles und institutionelles Recht“ herausgearbeitet und unter III. „Die Grenzen der Freiheit“ verfassungsrechtlich ausgeleuchtet – ohne ausdrücklichen Bezug auf ethische Aspekte. Im Grundsatz „II. Der Freiraum der Wissenschaft“ wird allerdings formuliert: „Jeder Versuch, den geschützten Raum der Wissenschaft auf Bekanntes oder auf die Beachtung religiöser, politischer und ethischer Positionen zu verpflichten, engt den wissenschaftlichen Diskurs in unzulässiger Weise ein und droht Kreativität und Innovation im Keim zu ersticken.“ Doch genau diese „grundsätzliche Offenheit gegenüber abweichenden Positionen“, die wohlgemerkt „nicht mit Kritiklosigkeit zu verwechseln“ sei, beruht selbst auf einer ethischen Prämisse, die beispielsweise in der Diskursethik systematisch ausgearbeitet wurde. Freiheit als Offenheit ist also nicht frei von Ethik, sondern basiert auf einer – bestimmten und begründeten – solchen.

Unter „IV. Verantwortung für das eigene Handeln“ wird dies im Grunde auch eingeräumt: „Das Verlangen nach Rechtfertigung der eigenen Position ist kein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern integrales Element des Diskurses, und aktiviert die Verantwortung der Wissenschaftler:innen.“ Doch auch hier wird individuelle Freiheit schematisch gegen „Versuche einer heteronomen Bestimmung“ gestellt, was den sozialen Charakter verantwortungsvoller Freiheitswahrnehmung reduziert. Freiheit umfasst hier nicht ausdrücklich positive (Freiheit zu) und negative (Freiheit von) Dimensionen, wie in der Ethik (und Politik) üblich sein sollte (Berlin 1995), sondern sie wird – vielleicht unbeabsichtigt – auf negative Freiheit liberalistisch oder gar libertär verkürzt. Zudem wird in diesem Grundsatz Wissenschaftsethik auf individuelle Selbstreflexion verkürzt.

Besonders deutlich wird Ethik antagonistisch gegen Freiheit im Grundsatz „V. Missbrauch von Forschungsergebnissen“ gesetzt. Kategorisch heißt es „Die Forderung nach Reflexion über mögliche Folgen der wissenschaftlichen Tätigkeit darf nicht zur Begrenzung von Forschungsgegenständen und -erkenntnissen führen.“ Und weiter: „Ethische Erwägungen allein vermögen eine rechtliche Einschränkung der Freiheit nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch für eher indirekte Einflussnahme und Steuerung über Ressourcenzuweisungen.“ Während der Verweis auf das Recht im Sinne negativer Freiheit als Abwehrrecht überzeugt, ist der zweite Teil des Satzes entweder missverständlich oder falsch: Selbstverständlich gehen ethische Bewertungen und Positionen, übrigens auch hinsichtlich möglicher Folgen und Nebenfolgen bzw. Unsicherheiten diesbezüglich, in wissenschafts- oder förderpolitische Entscheidungen mit Bezug auf Ressourcenallokationen ein. Ein Recht auf ausreichende Finanzierung absolut jeder rechtlich erlaubten Forschung wäre finanziell, und damit auch indirekt ethisch, absurd.

Im Grundsatz „VIII. Schutz der Personen durch die Institution“ findet sich am Rande der Verweis auf „auch moralisch gut begründete Wissenschaftsfreiheit“, während im Grundsatz „IX. Raum zur Erprobung neuer Thesen“ kritisiert wird, wenn „der Diskursraum durch ein Klima moralischer oder gesellschaftspolitischer Verwerfung eingeengt wird“. Offenkundig geht hier die Terminologie von Moral (als individuelle und kollektive Vorstellungen des Guten und Gerechten) und Ethik (als Reflexions- und Begründungstheorie der Moral) durcheinander. Zudem wird Moral mit unangemessenem „Moralismus“ – also persönlich abwertender und nicht begründender, sich selbst dabei überhöhender Polemik – gleichgesetzt. Dies ist selbst eine Polemik, die nicht zuletzt auf Niklas Luhmann zurückgeht, der Moral und Moralismus nicht unterscheidet – sei es bewusst oder nicht.     

Insgesamt erscheint also Ethik hier stets nur als Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit – und dies verfehlt die Ermöglichungsrolle von ethischer Reflexion und Begründung im Sinne positiver Freiheit: Erst auf der Basis anerkannter nicht nur rechtlicher, sondern auch ethischer Grundlagen ist die Wahrnehmung von Freiheit allererst möglich. Ethische Reflexion und Wahrnehmung der Verantwortung, wodurch die begründete Selbstvergewisserung der eigenen Forschung sichergestellt wird, bedeutet also, dass Verantwortung und Wissenschaftsfreiheit als dialektische Einheit betrachtet werden können – und sollten. Freiheit der Wissenschaft umfasst und erfordert gerade die Wahrnehmung von gesellschaftlicher Verantwortung – dies ist die Leerstelle in einem verkürzten Freiheitsbegriff. Richtig verstanden widersprechen sich Freiheit und ethisch reflektierte Verantwortung nicht, und exzellente Wissenschaft muss dies als ureigene Aufgabe verstehen und umsetzen.

Zugleich ist die notwendige Selbstreflexion in der Gefahr, zu selbstbezüglich zu werden: „In der Entwicklung sowohl von Grundlagen- als auch angewandter Wissenschaft besteht die Ethik darauf, dass es immer auch um die Abwesenden geht: um diejenigen, die abwesend sind, weil sie durch mangelnde soziale und globale Perspektiven heute übersehen werden und um diejenigen, die abwesend sind, weil sie durch mangelnde Weitsicht übersehen werden: die künftigen Generationen.“ (Ammicht Quinn/Potthast 2012: 12)

Programmatisch formuliert Regina Ammicht Quinn (2023): „Ethik ist nicht, wie Ulrich Beck es formulierte, die ,Fahrradbremse am Interkontinentalflugzeug‘. Ethik bremst nicht den Fortschritt, sondern fragt vielmehr, was Fortschritt ist und wie er gestaltet werden sollte. Aus einer ethischen Perspektive geht es darum, dass die Prinzipien, die grundlegend sind für eine demokratische Gesellschaft, übersetzt werden müssen für eine digitale demokratische Gesellschaft. Dazu braucht es neue Prozesse und Strukturen, etwa Verantwortung, Zurechenbarkeit, und gute Regulierung. Und es braucht das Wissen darum, wer von einer Technologie profitiert, wer einem Einsatz widersprechen kann und in welcher Weise neue Abhängigkeiten geschaffen werden können. Momentan zeigen sich die Probleme insbesondere als strukturelle Probleme, als Probleme der Repräsentation und als Gerechtigkeitsprobleme.“ 

Ethische „Probleme“ sind in dieser Perspektive eben stets verbunden mit der Ethik als begründender Ermöglicherin. Ethische Reflexion öffnet den Horizont, zu ergründen und zu begründen, was wir warum auch positiv wollen (sollen) – auch und gerade als praktizierte Freiheit (in) der Wissenschaft.

 

Literatur

Ammicht Quinn, Regina (2023): Warum eine ethische Perspektive notwendig ist, um Diskriminierungsmechanismen offenzulegen, in: Meinungsbarometer.info. Fachdebatte „Kennen Algorithmen Geschlechter?“

Ammicht Quinn, Regina/Potthast, Thomas (2012): Neugier, Nutzen und Moral, in: Attempto! Forum der Universität Tübingen, S. 10-12.

Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main. 


[1] Dass sich hier – auch unter wohlmeinenden und argumentaffinen Menschen – strittige Positionierungen finden, die derzeit weltpolitische Debatten prägen, sei ausdrücklich erwähnt.


Autor: Prof. Dr. Thomas Potthast
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