Wahnsinn als Strategie. Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Politik
by Thorsten Benkel
29.01.2025
Als er sich nach einer wechselhaften politischen Karriere als Präsident der USA zur Wahl stellte, versprach Richard M. Nixon im Wahlkampf 1968 eine rasche Beendigung des damals seit drei Jahren auch von den USA ausgefochtenen Vietnamkrieges. Um dies zu erreichen, wählte er nach Übernahme des Amtes ein Vorgehen, das in der Rückschau als „madman theory“ bekannt wurde. Nixon verstrickte seine politischen Ziele dabei auf eigenwillige Weise mit dem Widerstreit zweier ethischer Leitlinien, indem er eine Zwischenposition einnahm, die so widersprüchlich zu sein schien, dass sie – wie er einkalkuliert hatte – geradezu verrückt wirken musste.
Der Bezugspunkt dieser Taktik ist theoretischer Natur und führt ein halbes Jahrhundert zurück. In seinem Vortrag Politik als Beruf, den er ein Jahr vor seinem Tod, 1919, in München hielt, skizzierte der Gründervater der (deutschen) Soziologie, Max Weber, eine zentrale Dichotomie, die bis heute als ethischer Referenzrahmen Verwendung findet (Weber 1992). Gemeint ist die bekannte Unterscheidung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik.
Unter Verantwortungsethik versteht Weber, und versteht man seither in zahlreichen politikwissenschaftlichen, moralphilosophischen, aber auch forschungsethischen Kontexten die rationale Abwägung der Folgen des eigenen Handelns. Gemeint sind insbesondere die nicht-intendierten, aber durchaus möglichen, vielleicht sogar wahrscheinlichen Folgen eines Tuns, das man selbst in Gang setzt. Das Abwägen der eigenen Handlungsfolgen impliziert bereits bei Weber, dass planvolles Tun, wie jedes Handeln, Folgen haben kann, die dadurch, dass sie ungewollt sind, sich eben nicht in einem moralischen Vakuum auflösen. Sie bleiben an die Person (oder das Regime) geknüpft, welche(s) das Geschehen und seine Konsequenzen initiiert oder zumindest mitgetragen hat.
Gesinnungsethik wiederum meint eine Orientierung an bestimmten Zielsetzungen, deren Wert von der/dem Handelnden als so wichtig und unabdingbar angesehen wird, dass der Blick auf die Folgen hinfällig wird. Was immer das Handeln an unbeabsichtigten (und allemal an vorgesehenen) Effekten auch auslösen mag – die Entscheidung, diese Handlung vorzunehmen, ist jedwede Konsequenz wert. Gesinnungsethisches Agieren ist also eine Art Fundamentalismus, bei dem nur der unmittelbare Primärzweck des Handelns entscheidend ist und alles andere in den Hintergrund rückt.
Es fällt nicht schwer, gegen Weber das Argument stark zu machen, dass eine bloß zweiseitige Betrachtung von Handlungsfolgen aus ethischer Perspektive unterkomplex daherkommt. Das galt wohl schon 1919, als der „Große Krieg“ überstanden war, in den sich Weber wenn auch nicht in Kampfpraxis, aber doch als öffentlicher Kommentator eingebracht hatte; zudem war er Teil der deutschen Gesandtschaft im Rahmen der Verhandlungen um die Versailler Verträge. Abgesehen davon, dass zwischen den großen Worten Verantwortung und Gesinnung doch wohl noch Platz für Graustufen und Zwischenstadien sein sollte, lässt sich ferner einwenden, dass der ethisch informierte Blick stets ein standortgebundener ist. Das, was der eine in Kauf zu nehmen bereit ist zugunsten eines größeren Ziels, ist gerade das, was eine andere zögern und wieder einen anderen direkt Abstand nehmen lässt. So weit ist das common sense.
Nimmt man trotz dieser und weiterer Vorbehalte das Weber’sche Dual weiterhin ernst, so erscheinen gerade jene Szenarien aufschlussreich, in denen beide Konzepte, so idealtypisch voneinander getrennt sie auch sind, zusammenlaufen. Das historische Beispiel Nixons soll demonstrieren, dass der vermeintliche Gegensatz in der politischen Praxis aufgehebelt werden kann.
Zurück nach Vietnam. Die ursprünglich im Zuge der französischen Kolonialisierung angezettelte Indochina-Krise hatte sich Ende der 1960er Jahre zu einem polit-ideologischen Brandherd aufgebauscht, der keine Gewinner zu produzieren schien. 1969 an die Macht angekommen, wählten Nixon und seine Berater eine interessante Strategie, um einerseits die Vormachtansprüche der USA (die vorgeblich das vietnamesische Volk vor dem Kommunismus „beschützten“ wollten) aufrecht zu erhalten, ohne sich andererseits China und den Sowjets gegenüber als Ziel eines ausufernden Konflikts auszusetzen. Im Oktober 1969 ließ Nixon zur Bekämpfung der „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“ (kurz auch: Vietcong) zum einen Areale massiv bombardieren, die unmittelbar an die Sowjetunion grenzten. Die US-Truppen attackierten auf sein Geheiß hin ab April 1970 außerdem gezielt den zentralen Rückzugsraum der Vietcong, den Dschungel von Kambodscha. Eine formal unbeteiligte Nation wurde also in Mitleidenschaft gezogen, was nicht nur politisch, sondern auch in ethischer Hinsicht fragwürdig erscheinen musste.
Allerdings wusste Nixon diese Strategie im Hinblick auf ihre verantwortungs- wie auch gesinnungsethische Facetten zu maskieren. Das Vorgehen ist in der Rückschau, wie schon erwähnt, als „madman theory“ geprägt worden (Jacobson 2023). Der Begriff war offenbar Nixons eigene Wortprägung, wie die Erinnerung seines Stabchefs Bob Haldeman verraten (vgl. 1978: 122).
Als theoretisches Gedankenspiel taucht die Strategie, sich in machtvoller Position als ‚wahnsinnig‘ darzustellen, um dadurch Abschreckungseffekte zu erzielen, welche unter streng rationalen Vorzeichen nicht erreichbar wären, z.B. schon im 16. Jahrhundert in Niccolò Macchiavellis Discorsi auf. Nixon hat ein entsprechendes Schauspiel auf außenpolitischer Bühne gespielt. Der von ihm vorgegebene Umgang mit dem Vietnamkonflikt sollte den kommunistischen Kräften im asiatischen Raum den Eindruck vermitteln, dass er sich seinem Versprechen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden, so sehr verpflichtet sieht, dass er darüber irrational, ja wahnsinnig wurde. Die Bombenangriffe auf grenznahe und jenseits der Grenze Vietnams liegende Gebiete sollten inmitten des Kalten Krieges derart unkalkuliert, ja hilflos wirken, dass die zentralen Feindstaaten – eben China und die Sowjetunion – von einer geplanten Strategie nicht mehr ausgehen konnten. Mit anderen Worten: Es sollte aussehen, als sei der verrückt gewordene US-Präsident zu allem in der Lage. Folglich könne man ihm mit dem üblichen Arsenal von Provokation, Abschreckung, vermeintlichem Rückzug usw. nicht mehr beikommen, denn ein Irrer im Weißen Haus ist so unberechenbar wie ein Schachspieler, der die Regeln ignoriert und seine Figuren rückt, wie es ihm beliebt; und sollte ihm dennoch eine Niederlage drohen, so bleibt immer noch die Option, das Spielbrett vom Tisch zu schleudern.
Es ist heute strittig, ob dieses Manöver von den gegnerischen Führungen wirklich geglaubt wurde. Überdies ist fraglich, ob die madman theory angesichts der Komplexität internationaler bewaffneter Konflikte überhaupt effektiv im Sinne eines Nachgebens einer Seite zugunsten der anderen sein kann (McManus 2019; Schwartz 2023). Evident ist jedenfalls, dass Nixon versuchte, sich im Zeichen einer klandestinen Verantwortungsethik als Gesinnungsethiker darzustellen. Derweil er auf der Vorderbühne des internationalen politischen Diskurses vermeintlich in einen Zustand verfallen war, der jedwede Folgenabschätzung ausblendete, sollte auf der Hinterbühne das eigentliche Prinzip vorherrschen, nämlich die bewusste Berücksichtigung der Konsequenzen eines scheinbar konsequenzenblinden Handelns.
Diese historische Episode hat das Ende des Vietnamkriegs wohl nicht beschleunigt und den USA auch keine greifbaren Vorteile eingebracht. 1975 verließen die US-Truppen sieglos Vietnam, nachdem sie dem ‚frontenlosen‘ Guerilla-Krieg ihrer einheimischen Gegner unterlegen waren (Greiner 2009). Obwohl folglich die hier ausgetestete Verzahnung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik letztlich als gescheitert angesehen werden muss, wenigstens aber als nicht zielführend, ist die madman theory seither öfter angewendet worden. Zugeschrieben wurde sie in den letzten Jahren z.B. Kim Jong-un und Vladimir Putin; allerdings verschwimmen dabei Unterstellungen, es werde bewusst ein Irrsinnsschauspiel aufgeführt, mit pejorativen Bewertungen, die die Entscheidung für den inszenierten Wahn selbst als Wahnsymptom verstehen wollen. In diesem Zusammenhang taucht auch der Name Donald Trump öfter als Referenz auf. Die gezielte Vermengung der Weber’schen Kategorien funktioniert bei solchen praktischen Beispielen, soweit dies zu erkennen ist, jedenfalls stets in dieselbe Richtung: Man gibt sich gesinnungsethisch und verfolgt dabei eine verantwortungsethische Konzeption (oder zumindest das, was man dafür hält).
Doch auch die umgekehrte Methode gibt es, und sie scheint, obwohl auch sie eine Mesalliance beider ethischen Maßstäbe bietet, weniger bemerkenswert zu sein. Dass ein Staatsoberhaupt sich ausdrücklich als Verantwortungsethiker:in inszeniert und explizit um die Folgen des eigenen politischen Handelns besorgt zu sein scheint, tatsächlich aber eine Ideologie verfolgt, bei der die Nebenfolgen kein Gewicht haben, gehört zum etablierten Handwerkszeug despotischer Regime. Die zur Schau gestellte, aber nicht geglaubte und nicht gelebte Verantwortungsethik ist zugleich eine Fiktion auf der Ebene der Diplomatie, aufgrund derer Despot:innen außenpolitisch kommunikationsfähiger wirken, als sie tatsächlich sind.
Literatur
Greiner, Bernd (2009): Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg.
Haldeman, Harry Robbins/DiMona, Joseph (1978): The Ends of Power, New York.
Jacobson, Zachary J. (2023): On Nixon’s Madness. An Emotional History, Baltimore.
McManus, Roseanne W. (2019): „Revisiting the Madman Theory. Evaluating the Impact of Different Forms of Perceived Madness in Coercive Bargaining”, in: Security Studies 28 (5), S. 976-1009.
Schwartz, Joshua A. (2023): „Madman or Mad Genius? The International Benefits and Domestic Costs of the Madman Strategy”, in: Security Studies 32 (2), S. 271-305.
Weber, Max (1992): Politik als Beruf, Stuttgart.
Autor: PD Dr. Thorsten Benkel
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