Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Trümmerfrauen: ein Nachtrag zum Weltfrauentag

von Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn

29.03.2021 · „Trümmerfrauen“, so die kollektive Legende in Deutschland, haben in deutschen Städten selbstlos und optimistisch mit bloßen Händen den Schutt des Krieges weggeräumt und die Städte wieder bewohnbar gemacht. Wie in fast jeder Legende gibt es hier Stücke von Faktizität. Das Trümmerräumen aber war keineswegs eine Arbeit, die allein von Frauen getan wurde (es gab (mehr) Männer und Maschinen), und es war häufig auch keine freiwillige Arbeit. Noch während der NS-Zeit wurden Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge für Aufräumarbeiten eingesetzt; nach Kriegsende übernahmen die Stadtverwaltungen und die alliierten Besatzungsmächte dieses System. Die Arbeit des Trümmerräumens war stigmatisiert, und viele der Frauen und Männer waren ehemalige Nazi-Funktionär:innen und Mitglieder der NSDAP, sodass nach wie vor die Arbeit als Strafe galt. Später wurden Arbeitslose – Männer und Frauen – dafür verpflichtet und mit Lebensmittelkarten entlohnt. (Treber 2015)

In den aufgeräumten, wieder bewohnbaren Städten wurden „Trümmerfrauen“, je unterschiedlich in BRD und DDR, dann glorifiziert: Sie wurden zu den Vorläuferinnen des Wirtschaftswunders und sie verkörperten einen Teil der Geschichte, für den man sich nicht schämen musste: den heroischen, mühsamen und zielstrebigen Wiederaufbau. Schon 1946 begann eine Medienkampagne mit teils gestellten Bildern von Frauen, immer wieder mit Lächeln und Lippenstift inmitten der Trümmer. Diese Bilder sind heute im kollektiven Gedächtnis enthalten:

Wenn etwas kaputt ist, räumen die Frauen es auf. Auch wenn es um große Trümmer geht.

Es ist kein Zufall, dass die Rolle der Frauen innerhalb der katholischen Kirche gerade dann (mit Vorsicht und ohne Ergebnisse) neu überdacht wurde, als die Krise der sexuellen Gewalt in der Kirche öffentlich wurde. Es ist kein Zufall, dass in zerrütteten Ländern wie Belarus Frauen als Führungspersonen des Widerstands auftreten.

Und natürlich haben Frauen in der Covid 19-Krise einen erheblichen Teil der Arbeit übernommen: Es sind Frauen, die als Ärztinnen und Krankenschwestern arbeiten, Frauen in Berufen, die als „systemrelevant“ gelten wie Verkäuferinnen in Supermärkten und Reinigungskräfte in Krankenhäusern, Frauen, die ihre Familien versorgen, sich um die Kranken kümmern, die Kinder während der Schulschließungen unterrichten, für die Bewohnbarkeit der Wohnung sorgen und daneben und gleichzeitig im home und im office sind, und den Kontakt zu den älteren Menschen halten, die sie nicht besuchen dürfen. Damit hat die Krise die Defizite der Gleichstellung sowohl im Erwerbsleben als auch in der unbezahlten Care-Arbeit offenbart.

„Care“ als Pflege, als Hinwendung und als Sorge ist (natürlich?) ein großes Thema, das mit Frauen in Verbindung gebracht wird. Und nicht nur in konservativen Lebensentwürfen kann „Care“ dreierlei bedeuten: typische Frauenarbeit, eine „weibliche“ Einstellung zur Welt oder die geforderte und zugeschriebene wichtigste weibliche Charaktereigenschaft. Als kulturelle Bilder transportieren sie eine bestimmte Form der Normalität, ohne dass diese Normalität die Lebenswirklichkeit vieler Menschen abbilden muss. Die Auswirkungen dieser Bilder sind empirisch nicht direkt messbar. Sie werden über Erziehung, Vorbilder, öffentliche Bilder und tiefsitzende Vorurteile  vermittelt und fließen, vermischt mit anderen Einflüssen, in Berufsentscheidungen, Karrierepläne, Intimitätsvorstellungen und andere Lebenspläne ein.

Diese kulturellen Bilder sind problematisch, solange Care-Arbeit zwar hoch bewertet, aber schlecht (oder gar nicht) bezahlt wird; solange Frauen, definiert durch ihr Geschlecht, auf jeder Ebene für „Care“ verantwortlich gemacht werden; solange Care-Arbeit keine geteilte Arbeit ist; und solange „Care“ für Frauen und „Autonomie“ für Männer gedacht ist. 

Autonomie ist nach wie vor einer der aufklärerischen Schlüsselbegriffe in der westlichen Philosophie. Autonomie als Selbstbestimmung bedeutet: (Mein) menschliches Leben ist im vollen Sinne des Wortes menschlich, wenn ich bestimmen kann, was für mein Leben am wichtigsten ist; und wenn ich in den Fragen, die am wichtigsten sind, bestimmen kann. Das ist richtig. Bis zu einem gewissen Punkt. In westlichen Traditionen und Praktiken ist es entscheidend für das gute Leben, dass wir wählen können, wen wir lieben oder heiraten, was wir studieren und was wir anziehen, für welche Partei wir wählen, wo und wie wir leben und vieles mehr. Gleichzeitig hat uns diese abendländische patriarchalische philosophische Tradition einen aufgeblähten Begriff von Autonomie als Erbe hinterlassen: Ein Mensch ist dann und nur dann ein Mensch, wenn er ein autonomes Leben führt. Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit rücken ins Zentrum menschlichen Lebens. Sie sind wichtig. Aber sie sind nicht die einzigen Werte, und sie sind nie vollständig zu verwirklichen.

„Wir wollen nun [...] annehmen“, schreibt Hobbes in De Cive, „dass die Menschen - sozusagen wie Pilze - plötzlich aus der Erde auftauchen und heranwachsen würden, ohne dass einer an den anderen gebunden wäre.“

Das ist nicht die Erfahrung vieler Frauen, und das ist nicht die Erfahrung von Frauen, die Kinder gebären; es ist nicht die Erfahrung von Kindern und behinderten oder älteren Menschen; es ist nicht die Erfahrung von nicht behinderten, „normalen“ Menschen, die Nahrung und Unterkunft und Mitgefühl und Gemeinschaft brauchen. Wenn manche Menschen „Autonomie“ als zentrale Eigenschaft und Erfahrung für sich beanspruchen, könnten sie bei Gelegenheit noch einmal darüber nachdenken. Menschliches Leben kann niemals nur auf Unabhängigkeit hin gerichtet sein. Es ist ein komplexes Gewebe aus Abhängigkeit und Wechselseitigkeit, Fürsorge und Anerkennung, Selbstbestimmung und deren Rücknahme. Nicht nur durch die Covid 19-Krise wird die Notwendigkeit deutlich, den Zusammenhang zwischen Independenz und Interdependenz neu zu überdenken. In diesem neuen und notwendigen Denken werden alle Orte der Autonomie in einem menschlichen Leben zu „relationaler Autonomie“ - Autonomie in Beziehung. Hobbes schreibt hier nur über Sichtbares, die sichtbare Oberfläche, nicht über die außerordentliche Vernetzung der Pilze jenseits der Oberfläche. Dass auch vernetzte und vernetzende Care-Arbeit in vieler Hinsicht unsichtbar bleibt, liegt nicht an mangelndem (biologischem) Wissen, nicht an mangelnden Informationen, sondern an gewohntem und immer wieder auch bewusstem Über-Sehen, Darüber-hinweg-Sehen und Weg-Sehen.

Die Corona-Krise hat Trümmer hinterlassen im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich. Die kollektiven Bilder erschöpfter Krankenschwestern ähneln den kollektiven Bildern der Trümmerfrauen. Frauen aber sind keine Trümmerfrauen, die sich kümmern und optimistisch, selbstlos und mit bloßen Händen aufräumen, zur Not auch den Schutt. Das ist die Aufgabe eines jeden und einer jeder an seinem und ihrem Platz in der Welt. Genauso ist es Aufgabe eines und einer jeden, die strukturellen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die aus einem idealisierten Trümmerfrau-Denken entstehen, wahrzunehmen und nach Möglichkeit zu beenden. Vielleicht, und das ist eine vage Hoffnung, verstetigt sich in der Zukunft nicht das Gefühl, dass die anderen gefährlich sind; vielleicht verstetigt sich das Gefühl, dass niemand ohne die anderen leben kann. Und will.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/207540

___________________________

Leonie Treber (2015). Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes. Essen: Klartext.

Hobbes, Thomas (1841 [1642]). Philosophical Rudiments Concerning Government and Society [1651] (the English version of De Cive). The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. London: John Bohn, ch. 8, 109.

Mackenzie, Catriona / Stoljar, Natalie (Hg.) (2000). Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self. Oxford: Oxford University Press.