Forschungsfrage:
Entwicklung sakraler Rezitation in Indien
Grundthese:
Nachweis einer direkten Entwicklung sakralen Gesangs in Indien, beginnend mit den Hymnen des Sāmaveda („Wissen von den Gesängen“, ca. 1.000 v. u. Z.), über die Lobgesänge der Stotras (auch Stava oder Stuti genannt) und deren Einsatz in heutigen Ritualen bis hin zur heutigen weltweit verbreiteten Praxis der Bhajan-Preislieder.
Untersuchungsgegenstände:
Veda, Stotras, Bhajans: Texte, Inhalte und Aufführungspraxis
Exposé:
In der indischen Tradition werden religiöse Texte mit neuen, populären Melodien gekoppelt. In Indien geht man von der magischen Wirkung der bis vor wenigen Jahrzehnten nur Eingeweihten bekannten, „richtigen“ Rezitation der vedischen Texte aus. Der musikalische Vortrag heiliger Texte spielt schon in den frühvedischen Schriften (Sāmaveda) eine wichtige Rolle und lässt sich in der Geschichte des Hinduismus
weiterverfolgen. Das Spektrum reicht dabei von philosophischen Diskursen über die heilige Silbe „Om“, von Stotra-Literatur und deren heutige Praxis im Ritual, von mittelalterlichen Bhakti-Bewegungen mit kunstvollen Bhajans, bis hin zu deren Popularisierung und Aufwertung in der indischen Freiheitsbewegung und modernen westlichen Adaptionen. Letztere sind inspiriert durch die verschiedenen Guru-Bewegungen, wie z. B. Satya Sai Baba, Ma Anandamayi oder Yogi Bhajan, die jeweils eigene Bhajan-Bücher haben und deren Anhänger sich regelmäßig zum Bhajan-Singen treffen. Bhajans spielen aber auch in der indischen Alltagskultur eine große Rolle, und Bhajan-Abende finden sowohl in Tempeln, als auch in familiären Hauskreisen statt (vgl. u.a. Bohlman 2013, Singer 1963, Laue 2012).
Der Wandel von bisher mündlichen Traditionen und ihrer Techniken (etwa Enbodiment-Techniken zur Memorierung der Veda-Reziation in Indien, Neelakandhan 2010) unter dem Eindruck neuer Verbreitungsstrategien durch Verschriftlichung und Öffnung, nicht zuletzt durch das Internet (Staal 2015, Larios 2011): In Südindien wird die mündliche Weitergabe der Veden parallel zu Transition und Umbruch weitgehend unverändert in einer archaisch anmutenden Weise weitergeführt – hier steht der Wissenschaft ein äußerst seltenes Fenster in vergangene und zugleich lebendige Kulturpraktiken offen.
Die inzwischen globale Bhajanbewegung kann in diesem Zusammenhang als in bestimmten Punkten gegenläufige, parallele Entwicklung sowie als unmittelbare Fortsetzung derselben untersucht werden. In diesem Zusammenhang ist auch nach dem Einfluss schriftlicher Tradierung etwa bei der buddhistischen shōmyō-Notation (Giesen 1975, Arai 1995) oder bei europäische Neumen (Treitler 1992) zu fragen. Ein weiteres Untersuchungsfeld bildet die Transformation ursprünglich arkaner, mit Klang verbundener Rituale einer Priesterkaste unter dem Eindruck moderner Medien, besonders des Internets. In der indischen Tradition werden heute vedische Rituale zur Bestellung im Internet angeboten und von europäischen Gruppen praktiziert. Es entsteht ein religiöser Markt, der das einstmals streng gehütete Wissen der Brahmanen überall zugänglich macht (Larios 2011 und 2017, Laue 2012). Dies geht soweit, dass außerhalb Indiens vedische Mantren immer wieder falsch ausgesprochen und ähnlich wie moderne Kirchenlieder mit Gitarrenbegleitung gesungen werden. Zu fragen ist, wie solche Entzauberungen auf die sakrale Konnotation von Klängen wirken.