Institut für die Kulturen des Alten Orients

Spätbabylonische mathematische Astronomie

Aus Babylon und Uruk, den zwei wichtigsten mesopotamischen Zentren wissenschaftlicher Aktivität in der spätbabylonischen Zeit (500 vC - 100 AD), sind etwa 130 astronomische Prozedurtexte bekannt. Diese in babylonischer Keilschrift verfassten Tontafeln enthalten Rechenregeln für die Anfertigung astronomischer Tabellen für Mond und Planeten. Das geplante interdisziplinäre Forschungsvorhaben soll dazu dienen, astronomische Prozedurtexte aus philologischen, astronomischen und wissenschaftstheoretischen Blickwinkeln mit modernen Analysemethoden zu untersuchen. Ergänzend sollen auch die etwa 250 überlieferten, mit den Prozedurtexten zusammenhängenden, tabellarischen Texte philologisch überarbeitet und neu analysiert werden, um das technische Verständnis der spätbabylonischen mathematischen Astronomie zu vertiefen.

Spätbabylonische astronomische Prozedurtexte und tabellarische Texte sind die ältesten Belege einer mathematischen Astronomie überhaupt. Andererseits bildet die spätbabylonische mathematische Astronomie die letzte und wohl bemerkenswerteste Phase einer intensiven und vielfältigen Beschäftigung der Mesopotamier mit Himmelserscheinungen. Davon zeugt ein umfangreiches Korpus das konventionell in die drei Bereiche Astrologie (Omina und Horoskope), beobachtungsorientierte Astronomie (Sternlisten, Sarostexte, astronomische Tagebücher, Zieljahrtexte, Almanache u.a.) und mathematische Astronomie (Prozedurtexte, synodische Tabellen und Hilfstabellen) unterteilt wird. Etwa 85 Prozedurtexte, 200 synodische Tabellen und 40 Hilfstabellen wurden bis heute publiziert; mittlerweile ist durch noch unpublizierte Funde die Anzahl der Prozedurtexte und der synodischen Tabellen auf ungefähr 130 bzw. 210 gestiegen.

Das Forschungsvorhaben beinhaltet sechs Ziele, die schwerpunktmäßig von philologischer (1-3), astronomischer (4), und wissenschaftshistorischer (5-6) Orientierung sind. Erstens sollen kritische Editionen und Übersetzungen der etwa 45 unpublizierten Prozedurtexte und der etwa 10 tabellarischen Texte angefertigt werden. Die publizierten Texte sollen philologisch überarbeitet werden. Neue übersetzungsmethodische Impulse die von rezenten Untersuchungen zur altbabylonischen Mathematik ausgehen, sollen dabei eine besondere Aufmerksamkeit für die babylonischen Begrifflichkeiten gewährleisten.

Zweitens sollen die Prozedurtexte zur Klärung lexikographischer Probleme terminologisch untersucht werden. Da in den letzten zwanzig Jahren die Edition der astrologischen und beobachtungsorientierten astronomischen Keilschriftliteratur erheblich vorangeschritten ist, sind die Aussichten gut, daß noch existierende terminologische Probleme jetzt gelöst werden können.

Eine umfassende Untersuchung von Prozedurtexten als Textkorpus existiert noch nicht. Deshalb soll drittens eine Typologie der Prozedurtexte und der einzelnen Prozeduren nach inhaltlichen, formalen und funktionalen Kriterien entwickelt werden. Aus der wechselseitigen Analyse von sprachlichen und astronomischen Phänomenen soll eine vielschichtige Erfassung des Korpus der Prozedurtexte entstehen, die als Grundlage für weitere Forschungsziele dient.

Viertens soll das technische Verständnis der babylonischen Astronomie vertieft werden. Obwohl die Rechensysteme in ihrer endgültigen Form im Großen und Ganzen verstanden sind, gibt es viele problematische Stellen in den Prozedurtexten und den tabellarischen Texten sowie erklärungsbedürftige Aspekte der Rechenverfahren.

Die beiden letzten Ziele stehen im Zusammenhang mit einer neuen Stufe der Erforschung der mesopotamischen Wissenskultur, indem Methodik und Zielsetzung durch moderne wissenschaftshistorische und geisteswissenschaftliche Ansätze erweitert werden. So sollen fünftens wissenschaftstheoretische Aspekte wie Mathematisierung, Abstrahierung und Theoriebildung erarbeitet werden. Die terminologischen und typologischen Analysen sollen Auskunft darüber geben, wie astronomische Rechenverfahren in Prozedurtexten mathematisch repräsentiert werden und inwiefern und auf welche Weise die Repräsentationen abstrakte Kenntnisse enthalten. Sechstens sollen astronomische Prozedurtexte und tabellarische Texte als Produkt einer Berufsgruppe in ihrem Kontext erfasst und deren Verwandtschaft zu anderen Textgattungen der mesopotamischen Wissenskultur näher bestimmt werden.

Zwischen den erwähnten Zielen gibt es enge Zusammenhänge: nur nach Klärung der Terminologie und Typologie können die astronomischen, wissenschaftstheoretischen und anderen Aspekte erarbeitet werden.