Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Trauer in Zeiten von Corona

von Vanessa Weihgold

10.04.2020 · Statistiken sagen uns, dass wir am Ende der Krise alle jemanden kennen werden, die oder der an Corona erkrankt war. Vermutlich werden wir nicht alle jemanden kennen, die oder der an Corona gestorben sein wird. Aber was bedeutet es für uns persönlich und als Gesellschaft, wenn in Zeiten von Ausgangssperre und social distancing ein Mensch stirbt? Eine Auseinandersetzung mit einem Familientrauerfall.

Der Bruder meines Schwiegervaters ist gestorben. Mein Schwiegervater ist über 60 und gehört zur Risikogruppe. Er konnte nicht zu seinem kranken Bruder fahren, konnte ihn nicht ein letztes Mal im Krankenhaus besuchen und konnte nicht Abschied nehmen. Dabei ist Abschied nehmen so wichtig für die, die weiterleben, damit sie wieder Freude am Leben finden können. Mein Schwiegervater sollte Abstand halten zu seinen Kindern, denn er gehört ja zur Risikogruppe. Aber wie bewältigt man den Verlust des eigenen Bruders, wenn einen die eigenen Kinder nicht umarmen sollen?

Nicht alle Menschen, die gerade sterben, sterben durch die Erkrankung am SARS-CoV-2 Virus. Aber es ist klar, dass Patient*innen, die an Corona sterben, in Quarantäne sterben sollten. Es ist für die Angehörigen besonders schwer zu akzeptieren, einen geliebten Menschen ausgerechnet in diesem Moment physisch allein zu lassen. Oftmals befand sich die oder der Sterbende wie auch sie selbst bereits über einen längeren Zeitraum in Quarantäne und konnten nur über Telefon oder Videoanruf in Kontakt sein. Allerdings ist diese Lösung jedoch dann schwierig, wenn sich die Betroffenen wenig mit neuen Medien auskennen. Alte Rituale durch neue zu ersetzen erscheint hier besonders schwierig.

Die Teilnehmenden der Covid-19 Konferenz der Akademie für Ethik in der Medizin diskutieren gerade die Belastungssituation des medizinischen Personals. Ob man Angehörigen nach der Unterzeichnung eines Haftungsausschlusses erlauben kann, Abschied zu nehmen, wurde in diesem Rahmen bislang nur angerissen. Es fehlt an Empfehlungen von ethischen Fachgesellschaften.1 Grundsätzlich ist der Tod in unseren modernen Gesellschaften zu einem Randthema geworden, das oftmals nur zu Unterhaltungszwecken Erwähnung findet. In der aktuellen Situation scheint es aber umso mehr notwendig sich zu fragen, welche Folgen es haben wird, wenn social distancing physische Distanz zur Norm macht, auch da, wo physische Nähe gebraucht wird – sei es bei den Sterbenden oder ihren Angehörigen.

Der Verlust eines wichtigen Menschen hinterlässt immer eine Leere und stürzt die Hinterbliebenen meist in einen schockähnlichen Zustand. Abschied und Trauer sind wichtig, um die Trennung von einem geliebten Menschen zu verarbeiten und ohne ihn weiter zu leben. Normalerweise sind in dieser Situation die Freund*innen die wichtigste Stütze. Sie helfen bei all den Dingen, die für allein Gebliebene plötzlich so schwierig erscheinen, wie Einkaufen und Kochen. Oder sie sind einfach nur da. Wer darf jetzt da sein für die Trauernden?

Der Beistand der Freund*innen und Verwandten muss gerade vor allem telefonisch oder über das Internet stattfinden. Onlineportale können dabei helfen sich mit Menschen auszutauschen, die die gleichen Erfahrungen machen. Das hilft, sich nicht ganz so allein zu fühlen. Weil wir Abstand halten sollen, bilden wir alle in dieser Zeit neue (vor allem digitale) Rituale aus, die uns Halt geben, unsere soziale Seite beantworten und natürlich tun wir das auch in einer so existentiellen Situation wie dieser. Aber reicht das aus?

Bestattung in Zeiten von Corona

Wir sollen zu Hause bleiben, mindestens zwei Meter Abstand halten... Wie wird unter diesen Umständen eine Beerdigung abgehalten? Offiziell dürfen nur noch die engsten Familienmitglieder teilnehmen (die Empfehlung der Bestattungsunternehmen liegt bei 10 Personen, die maximale Anzahl variiert aber in den jeweiligen Bundesländern), keine Freund*innen. Die Trauergäste müssen den Mindestabstand zueinander einhalten und sollten keine Gesten der Kondolenz (Umarmen, Küssen, Händeschütteln) ausüben. Wie können sich die Trauernden so beistehen? Eine Beerdigung kann nicht online stattfinden.

Religiöse Menschen dürfen aktuell keinen Gottesdienst abhalten, Christen haben kein Recht auf eine Aufbahrung mit offenem Sarg, Muslime dürfen ihre Toten nicht zur Bestattung in ihr Heimatland überführen. Die Kirchen versuchen hier – im erlaubten Rahmen – die Unterstützung zu geben, die nötig ist. Aber was macht das alles mit der eigenen Trauer und der Idee der Trauer in unserer Gesellschaft? Die Philosophin Claire Marin befürchtet, dass der natürliche Prozess unterbrochen oder aufgeschoben wird und sich so ein Trauma festsetzt. Wird der Trauerprozess unter- oder gar abgebrochen, können psychische Folgen für die Hinterbliebenen entstehen, die bislang nicht absehbar sind. Wir müssen uns fragen, wie wir verhindern können, dass wir kein gesellschaftliches Trauma auslösen dadurch, dass denjenigen, die sich mit dem Tod eines geliebten Angehörigen auseinandersetzen müssen, kein respektvoller Umgang mit ihrer Trauer ermöglicht wird.

 

Ich habe hier mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Diese werden wir wohl erst in einigen Monaten erhalten, wenn die zum Alltag gewordene Ausnahmesituation wieder eine Ausnahmesituation ist und wir in unseren Alltag zurückkehren. Aber können wir einfach zurück und vergessen, was in der Zwischenzeit war? Können die Hinterbliebenen darüber hinwegkommen, ihre Angehörigen nicht (richtig) verabschiedet zu haben? Ich habe die Sorge, dass das nicht so leicht gehen wird und die Trauer, die jetzt (physisch) allein erlitten wird, noch lange Zeit eine Wunde bleibt. Wir sind auch körperliche Wesen und brauchen Umarmungen, vor allem, wenn es uns nicht gut geht.

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1Nach Fertigstellung dieses Beitrags hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin ein sehr ausführliches Empfehlungsschreiben veröffentlicht, dass alle Betroffenen (Patient*innen, Zugehörige, Ärzt*innen, Pfleger*innen und weitere Begleiter*innen) adressiert. Hier werden nicht nur die in diesem Beitrag aufgeworfenen Fragen diskutiert, sondern auch darüber hinausgehende Empfehlungen ausgesprochen.

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