Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Corona und gesellschaftliche Naturverhältnisse

Ein Plädoyer, warum wir unser Verhältnis zur Natur ändern müssen

von Lena Schlegel

11.04.2020 · „Nature is sending us a message with the coronavirus pandemic and the ongoing climate crisis”, konstatierte die UN-Umweltbeauftragte Inger Andersen am 25. März 2020 im Guardian. Was aber will sie uns sagen? Was hat die Corona-Krise mit dem Klimawandel zu tun und was können wir daraus für gesellschaftliche (Natur-)Verhältnisse lernen? Die Corona-Krise zeigt einmal mehr unsere existentielle Verbundenheit mit der natürlichen Welt. In diesem Beitrag argumentiere ich, dass wir das Naturverständnis der Moderne ändern müssen, um die entgrenzten Folgen unseres Einwirkens auf die Natur verantworten und die gegenwärtige ökologische Krise bewältigen zu können.

Am problematischen Umgang mit dem Klimawandel seit nunmehr vier Jahrzehnten können wir beobachten, dass wir uns in einer existenziellen Krise in unserem Verhältnis zur Natur befinden. Moderne industrialisierte Gesellschaften halten im Umgang mit natürlichen Ressourcen, anderen Lebewesen und Lebensräumen an Praktiken fest, die gleichzeitig die Grundlagen allen Lebens nachhaltig zerstören. So zum Beispiel die andauernde Verbrennung fossiler Brennstoffe, die maßgeblich für die hohe CO2-Konzentration in der Atmosphäre verantwortlich ist und den Klimawandel antreibt. Historisch gewachsen mit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung, der auf einer binären Trennung von aktiv handelndem menschlichen Subjekt und passiver Materie beruht, hat die moderne Welt eine ressourcenintensive Lebensweise etabliert, die auf dem Raubbau an der Natur aufbaut.

Vieles deutet darauf hin, dass die anhaltende Naturzerstörung im Zuge der Modernisierung auch die Ausbreitung viraler Pandemien befördert. Der Handel mit Wildtieren, die industrielle Massentierhaltung und die Zerstörung von Lebensräumen sowie der Verlust der biologischen Vielfalt schaffen erst die Voraussetzung für den Übergang neuer Viren auf den Menschen. So ist die Verbreitung und Mutation von Erregern in gestörten Ökosystemen mit verminderter Biodiversität wahrscheinlicher als in intakten Naturräumen, wie Biologin Simone Sommer in der taz erklärt. Bislang getrennte Lebensräume verschwimmen zunehmend und ermöglichen so die Übertragung von Erregern auf andere Arten, so Josef Settele vom Hemholtz-Zentrum für Umweltforschung. Vereinfacht gesagt, steigt also die Wahrscheinlichkeit viraler Epidemien mit der Vernichtung von Ökosystemen und der Biodiversität. Der Übergang des Covid-19 Virus, vermutlich von Fledermäusen über einen Zwischenwirt auf den Menschen, fand wahrscheinlich auf einem chinesischen „Wet Market“ statt, wo lebende Wildtiere zum Kauf angeboten und vor Ort geschlachtet werden, oft unter mangelnden hygienischen Bedingungen. Das Problem, so Settele, liege aber nicht bei den Tieren, sondern in unserem Umgang mit der Natur. An der Corona-Krise zeigt sich daher auch die grundlegende Schieflage unserer gesellschaftlichen Naturverhältnisse.

"Wir schauen zu wenig auf die Tatsache, dass ein falsches Mensch-Natur-Verhältnis viele unserer Probleme befeuert, meist sogar verursacht",

sagt Johannes Vogel, Professor für Biodiversität an der HU Berlin in der ZEIT. Der Klimawandel, der Verlust der biologischen Vielfalt und eben auch die Verbreitung viraler Pandemien können daher als Ausdruck dieses grundlegenden Problems unseres Umgangs mit der Natur betrachtet werden.

Dennoch sind die Umgangsweisen mit den Phänomenen sehr unterschiedlich. Während wir die Folgen der Klimakrise seit 40 Jahren in die Lebenswelten zukünftiger Generationen und in den globalen Süden auslagern, gelang es in der Corona-Krise innerhalb kürzester Zeit, massive politische und ökonomische Hilfen zu mobilisieren und gesellschaftliches Leben völlig umzuwälzen. Alles mit Verweis auf die Existentialität der Krise und in Appell an die gesellschaftsübergreifende Verantwortung – Aspekte, die so auch im Forderungskatalog von Fridays for Future stehen könnten. Wie kommt es, dass wir das eine existentielle Problem als Krise wahrnehmen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen als solche behandeln, und das andere seit Jahrzehnten ignorieren, verschieben und ausblenden? (Was) Können wir also aus der Corona-Pandemie für den Umgang mit dem Klimawandel lernen?

In ihrer unmittelbaren Bedrohung menschlichen Lebens und ihrer durchdringenden Präsenz in unser aller Alltag stellt die Corona-Pandemie eine greifbarere Bedrohung für menschliches Leben dar als der Klimawandel, der noch immer vornehmlich als ökologisches Problem und damit sehr abstrakt diskutiert wird, wie der französische Soziologe Bruno Latour kritisiert. In seinem aktuellen Buch „Das terrestrische Manifest“ argumentiert er, dass die Klimakrise, insofern sie die erschreckende Perspektive des Verlustes unserer Lebensgrundlage aufwirft, existentielle Fragen um Leben und Tod, Identität und Territorium auslöst – der Corona-Krise also eigentlich sehr ähnlich ist. Der Klimawandel verursacht jedoch ein noch viel grundlegenderes Unwohlsein, weil wir uns nicht vorstellen können, wie sich unsere Leben verändern müssten, würden wir Maßnahmen treffen, die dem Ausmaß der ökologischen Katastrophe entsprechen. In ihrer Studie über Klimaleugnung in Norwegen identifizierte Kari Norgaard bereits 2011, wie Schuld, Hilflosigkeit und existenzielle Angst um die Stabilität der eigenen Position und der Mitwelt zum Ausblenden der Klimafrage aus der eigenen Lebenswelt beitragen.

An der Klimafrage manifestiert sich daher das grundlegende Paradox der modernen Welt, in der alles zugleich verbunden und entgrenzt ist. Verbunden insofern als unsere Leben eng mit anderen Lebewesen verknüpft sind. Überall sind wir abhängig von Mikro-Organismen, biologischen Prozessen und materiellen Dingen. Entgrenzt dahingehend, dass die Folgen unseres Handelns teilweise an fernen Orten, in der Zukunft und im Leben von Fremden auftreten, denen wir uns nicht unmittelbar moralisch verpflichtet fühlen. Die konzeptionelle Trennung des Menschen von der Natur, die diese Entgrenzung ermöglicht, ist so tief in die Institutionen unserer sozialen Ordnung eingeschrieben, dass wir sie im Alltag kaum mehr wahrnehmen, betont z.B. John Dryzek über Regieren im Zeitalter des Anthropozäns. Mit der Corona-Krise jedoch ist die existenzielle Verschränkung unserer gesellschaftlichen Welt mit der Natur auf einmal wieder in unsere unmittelbare Wahrnehmung gerückt. Sie zeigt uns einmal mehr, dass wir ökologische Probleme auch als soziale Probleme begreifen müssen und dass wir mit der Natur auch einen Teil von uns selbst zerstören. Sie zeigt auch, dass wir uns nicht durch Grenzen, Identitätspolitik, oder schlicht durch Leugnung der Probleme vor dem Einwirken der Natur auf unsere Körper schützen können. Die Corona-Krise hält uns daher den Spiegel vor, den wir im Klimaschutz bereits seit 40 Jahren ignorieren:

Wir Menschen sind ein Teil der Natur und überlebensnotwendig auf sie angewiesen. Das Projekt der Moderne fußt auf einem dualistischen Weltverständnis, das die anhaltende Ausbeutung der Natur legitimiert und den Blick auf die ethisch-politischen Konsequenzen unseres Handelns verschleiert. Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt tragen dabei in unterschiedlichem Maße zur Naturzerstörung bei und sind unterschiedlich von ihren Folgen betroffen. Die Ideale der Moderne sind insofern, obgleich in ihrem Anspruch der Emanzipation gut gemeint, selbst Teil des Problems. Wir müssen unser Verhältnis zur Natur ändern, um die Folgen unseres im Zuge der Modernisierung entfesselten Handelns einzuhegen. Und wir müssen die abstrakten Folgen unseres Einwirkens auf die Natur wieder zurück in unsere unmittelbare Wahrnehmung, unseren Lebensalltag, unseren moralischen Verantwortungsbereich bringen. Wir sollten die Corona-Krise daher als Momentum betrachten, gesellschaftliche Naturverhältnisse neu zu gestalten. Dafür brauchen wir ein Weltbild, das den Menschen nicht in Abgrenzung zur Natur denkt und einen ethischen Rahmen, der uns moralische Verantwortung gerade aufgrund unseres In-Beziehung-Stehens mit der Natur, gibt. Und schließlich benötigen wir auch eine ganze Menge Mut und Vorstellungskraft, um eine nachhaltige Zukunft entlang ungewisser Parameter zu erdenken.

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