Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

„Der Tod kostet das Leben“ – Zum Begriff des allgemeinen Lebensrisikos

von Dr. Wulf Loh

17.04.2020 · In seiner Ad-Hoc-Empfehlung vom 27. März geht der Deutsche Ethikrat unter anderem der Frage nach, welchen Grenzen der Infektionsschutz unterliegen könnte und spricht in diesem Zusammenhang von einem „allgemeinen Lebensrisiko“, das „von jedem zu akzeptieren“ sei. Was genau damit gemeint sein soll, lässt die Empfehlung offen, will sie doch zunächst einmal nur plausibel machen, dass der Schutz menschlichen Lebens „nicht absolut“ gilt. Trotzdem taucht der Begriff seitdem immer wieder in den Medien auf, zumeist, um die Fortsetzung bzw. Aufhebung dieser oder jener Maßnahmen zu begründen. Dies ist kaum verwunderlich, der Begriff besitzt eine intuitive Zugänglichkeit und Suggestivkraft, welche mühelos die zum Teil erheblichen kulturellen Unterschiede und individuellen Dispositionen im jeweiligen Umgang mit Tod und Sterben zu überdecken vermag. Frei nach dem Motto: „Der Tod kostet das Leben, memento mori… ihr wisst schon.“

Auch wenn der Ethikrat dies nicht intendiert haben mag, lässt er gerade durch seine sehr knappen Einlassungen zum Begriff des allgemeinen Lebensrisikos viel Raum für verschiedene Deutungen. Besonders augenscheinlich wird diese Mehrdeutigkeit an der Formulierung des Rates, dass ein Lebensrisiko „notwendig unbestimmt, aber gleichwohl gesellschaftlich nachvollziehbar“ sein müsse. Hier lassen sich eine stärker epistemische und eine stärker normative Lesart unterscheiden, die nicht nur ihren je eigenen Schwierigkeiten unterliegen, sondern darüber hinaus erst in dieser Mehrdeutigkeit die intuitive Plausibilität des Begriffs ausmachen.

Auf der einen Seite impliziert „nachvollziehbar“ eine epistemische Lesart, der zufolge es hier um ein Risiko geht, das die Gesellschaft – im Sinne eines Großteils der Bevölkerung1 – nachvollziehen kann. Damit kommt ein Vorverständnis über Lebensrisiken ins Spiel, das gerade in Kombination mit der oben angesprochenen intuitiven Zugänglichkeit den Begriff quasi naturalisiert, so als gäbe es ein irgendwie unvermitteltes, ja geradezu unvermeidliches Lebensrisiko. Eigentlich handelt es sich dabei aber um ein Lebensrestrisiko, wie sich schnell an einem Beispiel deutlich machen lässt: Nehmen wir an, es gehöre zum zu akzeptierenden Lebensrisiko, jederzeit vom Bus überfahren werden zu können. Sollte sich jedoch herausstellen, dass die Busfahrer*in betrunken war, keinen Führerschein besaß und die Bremsen des Busses fast weggerostet waren, sieht es mit der Akzeptanz schon gleich ganz anders aus. Bevor wir also bestimmte Lebensrisiken akzeptieren, versuchen wir doch im Allgemeinen, sie zu minimieren, bis nur noch ein für uns akzeptables Restrisiko übrigbleibt. Bei dem Begriff „allgemeines Lebensrisiko“ geht es also in Wahrheit um die Verhältnismäßigkeit der Minimierung von Lebensrisiken und der Akzeptanz des nach dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung noch bestehenden Restrisikos.

Mit dieser „Naturalisierung“ des Begriffs wird letztlich die Tatsache verdeckt, dass das Lebensrisiko als Restrisiko nicht feststeht, sondern normativ gesetzt werden muss. Besonders problematisch ist dies dann, wenn dieses Vorverständnis implizit als Rechtfertigung herhalten soll, indem aus dem geteilten Vorverständnis ein kontrafaktisches Einverständnis wird: Weil wir alle um das Risiko wissen, im Straßenverkehr umzukommen, zeigt unsere Teilnahme daran, dass wir dieses Risiko akzeptieren. Indem wir entsprechend handeln, bringen wir unser implizites Einverständnis zum Ausdruck.

So ähnlich funktioniert der Begriff des Lebensrisikos im Haftungsrecht, mit dem besonderen Twist, dass die Gerichte nachträglich festlegen, um welche Risiken wir vorher hätten wissen müssen. Aber abgesehen davon, dass wir alle notorisch schlecht darin sind, Risiken realistisch einzuschätzen, geht es ja um die Festlegung eines zu akzeptierenden Restrisikos, also die Verhältnismäßigkeit der Risikominimierung. Diese Festlegung aber hat letztlich nichts damit zu tun, was der Großteil der Bevölkerung über bestimmte Lebensrisiken weiß oder hätte wissen können. Es kann also gar kein Vorverständnis darüber bestehen, welches zu akzeptierende Lebensrisiken sind, wie die vielfältigen Beispiele von Straßenverkehr bis Organspende zeigen.

In dieser – gerade angeklungenen – stärker normativen Lesart geht es also um eine normative Setzung von Lebensrisiken, die die Gesellschaftsmitglieder nachvollziehen (können) müssen. Auch wenn der Ethikrat diese Lesart im Sinn gehabt haben mag, entfaltet sie für sich genommen aber überhaupt keine argumentative Kraft. Dass es irgendein Risiko, ums Leben zu kommen, immer und überall gibt, ist trivial. Erst aus der unter der Hand mitlaufenden Implikation der ersten Lesart – also der Idee, dass es schon ein implizites Vorverständnis darüber gibt, welche Lebensrisiken wir im Allgemeinen zu gewärtigen haben – bezieht der Appell des Ethikrates an ein allgemeines Lebensrisiko seine Wirkung.

Nun ließe sich einwenden, der Rat wollte mit der „Nachvollziehbarkeit“ gesellschaftliche Aushandlungsprozesse anmahnen, an deren Ende ein Lebensrestrisiko steht, das wir alle nachvollziehen können. Dies wird aber nicht der Realität von Krisensituationen als „Stunde der Exekutive“ gerecht. Aktuell jedenfalls finden diese Aushandlungsprozesse vor allem innerhalb und zwischen Expert*innengruppen und Regierungen statt – mit den verschiedenen Verwaltungs- und Verfassungsgerichten bisher größtenteils als aufmerksamen Beobachtern. Von einer gesellschaftlichen Nachvollziehbarkeit in irgendeinem nennenswerten prozeduralen oder deliberativen Sinn kann also keine Rede sein.

Wichtiger aber noch scheint mir hier der Umstand, dass es sich bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen Risikominimierung und zu akzeptierendem Restrisiko letztlich um eine moralische Frage handelt, bei der es im Kern darum geht, wo die Grenzen dessen verlaufen, was wir uns wechselseitig schulden. Gerichte und Staatskanzleien sind hier kaum die geeignete Adresse, um dies zu entscheiden. Genau dorthin gibt sie aber der Ethikrat letztlich zurück, indem er sich einer Antwort auf die Frage, welche Restrisiken für Leib und Leben von allen zu akzeptieren sind, enthält. Der Rat mag gute Gründe dafür gehabt haben, die Verhältnismäßigkeit der Risikominimierung nicht en détail anzugehen. Damit aber leistet er entweder einer Naturalisierung des Begriffs Vorschub, oder aber es bleibt von ihm nicht mehr als sein Appellcharakter ohne jede argumentative Stoßrichtung. Es ist sicher nicht verkehrt, uns daran zu erinnern, dass es – solange wir sterblich sind – wohl oder übel immer ein Lebensrestrisiko geben wird… der Tod kostet das Leben. Aber ehrlich gesagt wussten wir das auch ohne den Ethikrat.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/176004

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1 Mit „gesellschaftlich“ könnten natürlich auch bestimmte Institutionen, die demokratische Öffentlichkeit, bzw. „die“ Gesellschaft als kollektiver Akteur gemeint sein. Da es sich hier jedoch um ein Risiko handelt, dass von allen Gesellschaftsmitgliedern zu akzeptieren ist, scheint es naheliegend „Gesellschaft“ mit „überwiegende Mehrheit aller Gesellschaftsmitglieder“ gleichzusetzen.