Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Ein Rückblick: Ostern in Zeiten von COVID-19 – Spiritualität als psychologischer Schutzfaktor?

Wie wir in schweren Zeiten zum „guten Schwimmer“ werden

von Sabine Schacht

22.04.2020 · Das diesjährige Osterfest stellte uns angesichts von COVID-19 vor besondere Herausforderungen. Wir waren und sind vielleicht sehr direkt mit Krankheit, Tod und Leid in unserem allernächsten Umfeld konfrontiert oder erfuhren und erfahren eher indirekt, sei es durch die Medien und/oder durch die Beschränkungen unseres Alltagslebens, was eine Pandemie bedeuten kann. Hier stellt sich die Frage nach Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit dessen, was wir gerade erleben. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, wie sie mit der gesundheitswissenschaftlichen Perspektive der sogenannten Salutogenese nach Antonovsky1 und dessen „gutem Schwimmer“ im Fluss des Lebens zusammenhängt. Die Salutogenese fragt dabei nach der Entstehung von Gesundheit, Heil und Glück des Menschen.

Die Frage nach der Entstehung von Krankheit beschäftigt die Menschen schon eine lange Zeit. Auch der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky befasste sich mit dieser Thematik. Dabei stehen sich nach Antonovsky die pathologische und seine salutogenetische Sichtweise gegenüber. Werden Ursachen einer bestimmten Krankheit erforscht oder geht es darum, herauszufinden, warum Menschen trotz enormer Stressoren gesund bleiben? Hierfür führt Antonovsky das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum ein. Demzufolge bewegt der Mensch sich zwischen diesen beiden Polen, erreicht den Pol „Gesundheit“ oder den Pol „Krankheit“ jedoch nie ganz. Das bedeutet, dass der Mensch nach Antonovsky nie ausschließlich als nur „gesund“ oder nur „krank“ bezeichnet werden kann. Somit entfällt nach Antonovsky die traditionelle Dichotomie, nach der ein Mensch entweder völlig gesund oder absolut krank ist.

Aaron Antonovsky steht somit für einen bedeutsamen Paradigmenwechsel innerhalb des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit. Er möchte nicht die Ursachen für Krankheit erforschen, sondern der Frage nachgehen, was den Menschen gesund erhält. Stressoren begegnen uns demnach tagtäglich und in Zeiten von COVID-19 in besonderem Ausmaß, wie oben beschrieben wurde. Diese sind gegeben und unabänderlich. Mit ihnen muss sich der Mensch auseinandersetzen. Jedoch ist die Reaktion der Menschen darauf verschieden. Der eine bewegt sich auf dem Kontinuum Richtung „Gesundheit“, der andere in Richtung „Krankheit“.

Wie hängt dies mit der Spiritualität des Menschen zusammen? Spiritualität umfasst eine subjektive Domäne des Menschen, die vom Sinn des Lebens handelt. Diese Domäne kann sowohl innerhalb traditioneller Religiosität, als auch außerhalb derselben existieren. In ihrer individuellen Spiritualität können Menschen Antworten auf die großen Fragen der menschlichen Existenz finden, wie zum Beispiel auch auf die Frage nach Beginn und Ende des Lebens. Der Mensch strebt nach Bedeutung(en), um sein Leben als sinnhaft zu begreifen und zu dekodieren. So kann Spiritualität meiner Meinung nach als wichtige Bewältigungsstrategie für den Einzelnen in schwierigen Zeiten fungieren.

Schwierige Zeiten erlebten wir, wie schon gesagt, auch an diesem Osterfest. Wir beklagten und beklagen eventuell Kranke und Tote und feierten Ostern 2020 aufgrund von COVID-19 nicht als Familien in Gemeinschaft. Und wir durchleben vielleicht auch finanzielle und soziale Unsicherheit. Das sogenannte Coronavirus erschüttert ganz wesentlich das Sicherheitsbedürfnis des Menschen. In der sozialen Distanz und ohne deren absehbares Ende fehlen der direkte zwischenmenschliche Austausch und in gewisser Weise auch eine individuelle Zukunftsperspektive. Wir können nicht mehr planen. Auch kann das Leben in und mit der Pandemie zu einem Verlust an Selbstbestimmung führen. Es ist augenblicklich eben nicht mehr möglich, wie gewohnt, ein soziales Leben von Angesicht zu Angesicht zu führen und individuelle Pläne und Wünsche in vollem Ausmaß zu verfolgen. Genau dies zeichnet sonst jedoch unter anderem ein gutes gelingendes menschliches Dasein auch aus. Nun gilt es, neue Wege hin zu einem guten Leben zu finden.

So individuell wie wir Menschen, so individuell sind auch unsere Bewältigungsmechanismen im Umgang mit der Pandemie. Die Spannbreite reicht gewiss von der Glaubenskrise über stete Anspannung bis hin zum gelungenen Coping. Um diese menschliche Vielfalt der Bewältigung zu erklären, soll die pflegewissenschaftliche Perspektive der Salutogenese nach Antonovsky nochmals eingenommen werden. Was macht den Menschen gesund, heil und glücklich? Und hier kommt der „gute Schwimmer“ der Überschrift ins Spiel. Aaron Antonovsky wurde mit dieser Metapher bekannt, als er der Frage nach den Grundbedingungen menschlicher Gesundheit nachging:

Angenommen, ein Mensch befinde sich im strömenden Fluss des Lebens und müsse darin bestehen. Dies steht für den Menschen in seiner aktuellen Situation, wie zum Beispiel uns in Zeiten der Corona-Pandemie. Nun fragt die Salutogenese danach, was diesen Menschen dabei unterstützen kann, ein „guter Schwimmer“ zu werden. Die Bewältigung und der Umgang des Menschen mit Belastungen, Herausforderungen und Problemen, also das „Schwimmen“, entspricht nach Antonovsky einer Persönlichkeitseigenschaft und diese nennt er das Kohärenzgefühl. Dieses Gefühl ist das Empfinden von Vertrauen, Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit. Ist das Kohärenzgefühl gut und stark ausgeprägt, so ist der Mensch ein „guter Schwimmer“ im Fluss des Lebens, und dies trotz aller Widrigkeiten seines Daseins.

Das Kohärenzgefühl nach Antonovsky besitzt also eine globale Dimension, da es ausdrückt, inwieweit ein Mensch ein Gefühl des Vertrauens besitzt, das universell, dauerhaft und dennoch dynamisch ist. Die Verstehbarkeit umfasst dabei die Anforderungen der Umwelt, die als Struktur, Vorhersage und Erklärung in den Gesamtzusammenhang des individuellen Lebens eingeordnet werden können. Die Bedeutsamkeit drückt sich darin aus, dass Handlungen als lohnenswert erscheinen. Und schließlich kommt die Handhabbarkeit hinzu, die sich als Vorhandensein von verfügbaren individuellen Ressourcen beschreiben lässt.

Wie kann der Mensch also erfolgreich sein? Dies liegt darin begründet, dass er für die jeweilige Situation die notwendigen Ressourcen zu aktivieren vermag. Als Narrative, die Fragen von Krankheit, Tod und Leid zu einem miteinander verbundenen „großen Ganzen“ zusammenfügen, können meines Erachtens spirituelle Lebenszugänge jenes Kohärenzgefühl stärken. Und das Kohärenzgefühl ist wiederum das Instrument, das es dem Menschen erlaubt, auch schwere Zeiten zu überstehen.

Die ganz individuelle Spiritualität kann somit zum Schutzfaktor für den Menschen werden und Halt und Hoffnung spenden. Spiritualität als eine Widerstandsressource vermag es also, dem Menschen dabei zu helfen, ein „guter Schwimmer“ zu werden. Dieser „gute Schwimmer“ feierte dieses Osterfest vielleicht alleine oder innerhalb seiner Kernfamilie. Es war ein anderes Osterfest, ein individuell „besonderes“ im negativen oder positiven Sinn. Es war und ist eine Herausforderung des Lebens an den Einzelnen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/176475

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1 Antonovsky, Aaron: Health, Stress and Coping. New perspectives on mental and physical well-being. San Francisco 1979. Und: Antonovsky, Aaron: Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco 1987.