Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Vom Dilemma politischen Handelns in Zeiten der Krise und einem ersten Lösungsvorschlag

von Alexander Orlowski

20.05.2020 · Die zunehmende Zahl von Protesten gegen die aktuellen Maßnahmen der Regierung in der Corona-Krise zeigen, welch schwierige Gratwanderung politisches Handeln in Zeiten einer weltweiten Pandemie darstellt. Nüchtern betrachtet ist Deutschland erstmal mit einem blauen Auge davongekommen. Das medizinische Personal befindet sich nicht durchgängig an der Überlastungsgrenze wie zu Hoch-Zeiten der Krise in Italien und vor den Krankenhäusern stehen keine Kühllaster für die Verstorbenen wie vor einiger Zeit in New York. Die Sterblichkeitsrate ist deutlich geringer als in anderen Ländern und von einer kompletten Überlastung des medizinischen Systems waren wir glücklicherweise bisher zu jeder Zeit entfernt, sodass eine große Zahl der Intensivbetten frei blieb.

Dass dies so ist, liegt vermutlich an einem Bündel von verschiedenen Faktoren, zu denen aber die Maßnahmen der Bundesregierung ebenso zählen, wie ein flächendeckend vergleichsweise gut ausgebautes Gesundheitssystem. Dennoch kommen jetzt Fragen auf, ob die Kontaktverbote und Einschränkungen des öffentlichen Lebens gerechtfertigt waren oder nicht doch übertrieben sind. „Die große Katastrophe ist hier in Deutschland doch ausgeblieben?“ Diese Fragen zeigen das Dilemma, in der die Politik steckt, wenn ihre Präventiv-Maßnahmen, wie das Kontaktverbot, einen Effekt zeigen: Es passiert im besten Fall nicht viel. Ähnlich wie bei einem Schiff, das durch einen großen Sturm steuert, aber rechtzeitig alle Wanten festgezogen und das Segel eingeholt hat, fallen die Schäden dabei recht gering aus. Bloß, dass wir nicht durch einen Sturm segeln, dessen Gefahr offensichtlich ist, sondern die Bedrohung durch das Virus weitgehend unsichtbar bleibt.

Gleichzeitig ist ein Hinterfragen politischen Handelns mehr als gerechtfertigt, und auch die Wut der Demonstrierenden ist durchaus verständlich. Ein Viertel der deutschen Erwerbstätigen befindet sich derzeit in Kurzarbeit, gerade vielen Selbstständigen fehlt die Lebensgrundlage. Die Belastungen durch Corona und alle dazugehörigen Maßnahmen trifft nicht alle Menschen gleich, sondern es treten die Muster der sozialen Ungleichheit durch die Krise umso deutlicher zu Tage. Hier hat die Regierung eine Vielzahl an Unterstützungsprogrammen gestartet, die bitter notwendig sind. Dennoch reichen diese allein nicht aus, denn für eine Demokratie gelten die Gebote der Transparenz und der Aushandlung – auch, oder insbesondere in Krisenzeiten. Auch in einer Pandemie muss politisches Handeln erklärt werden. So sorgte beispielsweise die Veränderung der Einschätzung zur Maskenpflicht für viel Unverständnis. Anfangs sprach sich das Robert Koch-Institut dagegen aus, mittlerweile ist das Tragen einer Maske elementarer Bestandteil des täglichen öffentlichen Lebens. Dieses Beispiel zeigt ein zweites Dilemma der Politik: Auch die Politikerinnen und Politiker verfügen nicht über alle notwendigen Informationen für ihre Entscheidungen, und doch ist schnelles Reagieren gefordert. Dass aber mit Veränderungen des Kontexts und den verfügbaren Informationen auch politische Entscheidungen neu abgewogen werden, ist verständlich.

Diese Ausgangslage erinnert stark an ein Problem aus der Technikfolgenabschätzung, das Collingridge Dilemma. Dieses beschreibt die Situation, wenn die Folgen einer noch nicht entwickelten Technik noch schwer abzuschätzen sind, diese aber durch eine Anpassung in der Entwicklung noch zu korrigieren wären. Doch erst wenn der Entwicklungsprozess weit genug vorangeschritten ist, sieht man die tatsächlichen Auswirkungen. Da die Technik jetzt aber schon vorhanden ist, werden Änderungen an ihr kompliziert. Dasselbe passiert in der aktuellen Situation, denn keiner kann vorhersagen, welche Wirkungen die Anti-Corona Maßnahmen genau haben werden, ob sie gut greifen oder möglicherweise sogar übertrieben sind. Erst ca. zwei Wochen später ist die Effektivität der Maßnahmen an der Infektionskurve sowie am Reproduktionsfaktor ablesbar. Da aber immer noch weitere Faktoren eine Rolle spielen und einen Einfluss auf den Verlauf der Pandemie haben, ist hier keine direkte Kausalität sichtbar, sondern es sind immer nur Tendenzen ableitbar. Sich unter diesen Umständen für ein Handeln zu entscheiden, ist schwierig und dennoch notwendig. Hier wird deutlich, dass Politikerinnen und Politiker keine allwissenden Wesen sind, sondern Menschen, die vor einer Situation stehen, die so in dieser Form noch nicht da war. Wenn es hier jedoch gelingt deutlich zu machen, warum beispielsweise die Entscheidung für eine Maskenpflicht gefällt wurde und welche Abwägungen in diesem Prozess mit einflossen, wird klarer, dass die Lösung Masken zu tragen keineswegs der Goldstandard ist. So spielten bei der Abwägung Fragen der Verfügbarkeit vermutlich genauso eine Rolle, wie die Gefahren durch eine falsche Benutzung, oder Risiken für Menschen mit Atembeschwerden. Die Maskenpflicht ist aber unter verschiedenen Möglichkeiten diejenige, die es uns erlaubt Teile des öffentlichen Lebens wieder aufzunehmen. Eine solche Kommunikation würde für ein breiteres Verständnis sorgen und könnte so dem teils berechtigten Unmut in der Bevölkerung produktiv begegnen. Das ist eine gewaltige Herausforderung für die Politik, aber auch eine Chance, der von Teilen der Bevölkerung wahrgenommenen Entfremdung von der Politik entgegenzuwirken und politische Prozesse wieder in die breite Gesellschaft einzubinden. Denn eigentlich sollten Politik und Öffentlichkeit keine getrennten Bereiche sein, sondern miteinander verbundenist dies keine Unterscheidung, die notwendig vorhanden sein muss, sondern Politik sollte immer ein Teil der Gesellschaft sein. Wenn politische Abwägungsprozesse wieder in die Gesellschaft rückgebunden werden und eine öffentliche Diskussion dazu wieder möglich wird, wäre dies ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Form der Intransparenz aufzulösen, wäre eine erste Reaktion auf den Teil der Demonstrierenden mit legitimen Bedenken und könnte für diese eine anschlussfähige Antwort darstellen.

Diese Beobachtung von Ungewissheit im politischen Handeln ist nicht nur für die Corona-Krise zutreffend, sondern gilt für viele politische Entscheidungen. Die Effekte, welche neue Verordnungen, Gesetze oder Maßnahmen auf die Gesellschaft haben werden, sind nie direkt vorherzusagen. Es lassen sich zwar Annahmen treffen, aber in einer so komplexen Gesellschaft wie der unseren lässt sich die Zukunft nie prophezeien, egal ob es jetzt um einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, geht oder um Änderungen der Rentenversicherung; oder eben um Maßnahmen in einer globalen Pandemie. Deshalb ist es notwendig, die Prozesse hinter diesen und auch anderen Entscheidungen transparent zu machen und eine öffentliche Diskussion dazu nicht nur zuzulassen, sondern aktiv anzuregen. Auch zu solchen schwierigen Themen, die als Abwägung zwischen der Freiheit vieler und dem Schutz der Schwächeren diskutiert werden. Denn dies entspricht den zentralen Grundwerten unserer Demokratie.

Wir haben die erste Welle vergleichsweise gut überstanden. Die jetzt laut werdenden Fragen, ob die politischen Maßnahmen wirklich gerechtfertigt war, sind legitim in einem demokratischen Staat. Jedoch ist gerade in der aktuellen Situation die Form dieser Kritikäußerung genauso entscheidend, wie eine angemessene Reaktion aus der Politik notwendig ist. Wir müssen die Lage jetzt nutzen uns nicht nur in der Pandemie zurecht zu finden, sondern können auch wichtige Weichen für den demokratischen Prozess stellen. Wenn es hier gelingt, durch eine transparente und offene Darstellung die Entscheidungsprozesse für alle zugänglich zu machen und eine öffentliche Diskussion dazu zu stärken, gelingt es möglicherweise auch, ein integrativeres Politikmodell zu etablieren. Vielleicht bietet die Krise eine Chance auf das zunehmende Entfremdungsgefühl zu reagieren.

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