Institut für die Kulturen des Alten Orients

Sumerische Spotthymnen – Erforschung eines neuen Genres

Dr. Jana Matuszak
Projektlaufzeit: 2019-2023

Kurzdarstellung

Ausgehend von kritischen Editionen zweier bislang unbekannter sowie Neuübersetzungen zweier bereits bekannter, aber nur unzulänglich verstandener sumerisch-sprachiger Werke aus der Altbabylonischen Zeit (ca. 2000–1600 v. Chr.) strebt dieses Projekt die erste systematische Untersuchung dieser Texte an, deren Genre bisher nicht überzeugend bestimmt werden konnte. Die bisherige Forschung hat sich lediglich auf den abschätzigen Inhalt der Texte konzentriert, da sie eine Fülle an Beschimpfungen enthalten, die gegen stereotype bösartige, inkompetente und moralisch verderbte Charaktere gerichtet sind. Wegen ihrer angeblich literarisch anspruchslosen Gestalt wurden die Texte als unausgereifte Schmäh-Übungen abgetan und weitestgehend ignoriert. Im Rahmen des Projekts wird das Augenmerk erstmals auf ihre formale Ähnlichkeit zu Hymnen gelenkt: die Texte enthalten keineswegs nur lose Aneinanderreihungen von unzusammenhängenden Beleidigungen, sondern können besser als Parodien auf Hymnen – oder: Spotthymnen – beschrieben werden. Da die Werke nicht nur von Hymnen, sondern auch von Beschwörungen inspiriert sind, können sie an der Schnittstelle zwischen gelehrter Parodie und apotropäischem Zauber situiert werden. Der längste und komplexeste der vier Texte, hier erstmalig präsentiert, enthält darüber hinaus intertextuelle Anspielungen auf sämtliche Genres der sumerischen Literatur: von Sprichwörtern bis hin zu rituellen Klagen, von Epen zu Liebesliedern, von lexikalischen Listen zu Gebeten. Die Spotthymnen gewähren daher wichtige neue Einblicke nicht nur in die Rezeption traditioneller sumerischer Literaturwerke, sondern auch in die Praktiken der Textproduktion in den intellektuellen Milieus Babyloniens im frühen zweiten Jahrtausend v. Chr.

Ausführliche Darstellung

Im Zentrum des Projekts steht ein beinahe vollständig erhaltenes Prisma aus der Altbabylonischen Zeit (ca. 2000–1600 v. Chr.), das von Stephen Langdon in OECT 1 (1923) publiziert wurde und sich seitdem jeder verlässlichen Übersetzung und Interpretation entzogen hat. Während Langdon, die „insurmountable difficulties of language“ (ebd. 16) beklagend, den Text als „Hymn and Prayer to the Mother Goddess for Succor from Demons“ verstanden hatte, ermöglichte die Identifikation von Teilduplikaten ab den späten 1950er Jahren wichtige Fortschritte, rief aber gleichzeitig auch neue Verwirrungen hervor. In den frühen 1990ern herrschte daher kein Konsens darüber, wie viele Texte das Prisma enthielt, obgleich sich die wenigen Personen, die sich in gelegentlichen Fußnoten zum Thema äußerten, einig waren, dass es mehr als ein Text sei, der zudem nichts mit einer Hymne und einem Gebet an die Muttergöttin zu tun habe. In Graham Cunninghams (2007) Überarbeitung von Miguel Civils Catalogue of Sumerian Literature ist das Prisma mit seinen damals vier bekannten Teilduplikaten schließlich als “*5.4.13 Diatribes against women” registriert. Der Gebrauch des Plurals verrät dabei die Unsicherheit darüber, wie viele Texte das Prisma enthalte und wie viele Texte dieser Art es überhaupt gebe.

Die Identifikation sechs neuer Teilduplikate des Oxforder Prismas in den letzten Jahren, die eine Verdopplung der Anzahl der Manuskripte bewirkte, biete eine exzellente Grundlage für die Erstellung einer editio princeps des Texts, die bis zum hundertjährigen Jubiläum der Publikation von Ashm 1922-0169 durch Langdon abgeschlossen sein wird. Die Rekonstruktion des Textes und seine vollständige Übersetzung erlauben nun eine umfassende Neubegutachtung des Prismeninhalts. Es wird gezeigt, dass es tatsächlich nur ein Werk enthält, das fortan nach seinem Incipit Ka hulu-a „Der böse Mund“ zitiert wird. Seine hybride Natur, die frühere Forscher von mehr als einem Text ausgehen ließ, resultiert aus einem überdurchschnittlich hohen Anteil an intertextuellen Verweisen auf zahlreiche Werke und Genres der sumerischen Literatur. Auf der Grundlage einer Beschreibung der strukturellen und formalen Charakteristika des Texts wird argumentiert, dass er nach der Vorlage einer Hymne an die Göttin Innana erschaffen, aber mit völlig entgegengesetztem Inhalt gefüllt wurde: die Göttin selbst wird explizit nur im letzten Drittel erwähnt, während der erste Teil keine rühmenswerte Gottheit, sondern eine verachtenswerte Sterbliche angesprochen wird.

Indem der Fokus weg vom schmähenden Inhalt und hin zu dessen Präsentation gelenkt wird, kann gezeigt werden, dass die liedhafte Form – korrekt erkannt von Langdon – Anspielungen auf Liebeslieder, Beschwörungen, lexikalische Listen, Klagen, Gebete sowie bestimmte Epen um Innana ummantelt. Eine spezifische Quelle kann als Inspiration für die erste Strophe und daher vermutlich für den gesamten Text identifiziert werden: die Early Dynastic Proverb Collection 1, eine Sammlung prägnanter sumerischer Sentenzen von ca. 2600 v. Chr., die im frühen zweiten Jahrtausend weitgehend in Vergessenheit geraten war und, wie gezeigt wird, einer recht tendenziösen (Um-)Interpretation unterzogen wurde. Der böse Mund kann daher als literarisches Produkt gelehrter Schreiber verstanden werden, die im frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. in Babylonien tätig waren. Selbst akkadische Muttersprachler, verfassten sie den Text in recht „akademischem“ Sumerisch, was teils die immer noch bedeutenden „difficulties of language“ erklärt, die Langdon beklagte. Die Abweichungen von klassischer sumerischer Grammatik, Lexikon und Syntax bedingten methodologische Probleme bezüglich der Übersetzung, die in einem separaten Kapitel behandelt werden.

Der zweite Teil erweitert den Fokus und bezieht drei andere sumerische Werke, eines davon bislang unbekannt, in die Diskussion ein, da sie den gleichen intellektuellen Milieus entstammen und einige Charakteristika mit Der böse Mund gemein haben: Engardu der Idiot, Prächtiger Spross eines Hunds und Frau, die Böses vervollkommnet. Die beiden erstgenannten Texte wurden bislang als „Diatriben“ bezeichnet und als recht planlose Sammlungen von Beleidigungen abgetan – ganz amüsant, aber literarisch anspruchslos und nicht der eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung würdig. Ich stelle die Hypothese auf, dass ihr schmähender Inhalt von ihrer literarisch durchaus anspruchsvollen Form abgelenkt hat. Tatsächlich können all diese Werke als Parodien auf Hymnen – oder: Spotthymnen – bezeichnet werden. Anstatt wichtige Gottheiten oder besonders verehrte, vergöttlichte Könige zu preisen, beleidigen sie die unwürdigsten „normalen“ Menschen. Trotz ihres durchweg negativen Inhalts ahmen sie die formalen Merkmale von Hymnen getreu nach. Aber handelt es sich bei diesen Texten tatsächlich nur um einen literarischen Scherz?

Die Texte selbst enthalten meta-textuelle Selbstbezeichnungen, die eine gewisse Wirkmacht über ihre Adressat*innen beanspruchen und ähnlich auch in Beschwörungen zur Austreibung vom Bösen zu finden sind. Es wird daher untersucht, inwieweit die selbst ernannten „Beschwörungen“, die weder in Form noch Inhalt tatsächlichen Beschwörungen entsprechen, quasi-magische Funktionen innegehabt haben könnten. Ein unpubliziertes Manuskript von Der böse Mund aus Sippar, das ich kürzlich in den Archäologischen Museen zu Istanbul identifizieren konnte, könnte neues Licht auf die Frage werfen, ob diese Texte lediglich gelehrte Parodien aus dem Umfeld der Schreiberausbildung darstellen oder ob sie in einem performativen Kontext zu situieren sind, in dem sie weitere gesellschaftliche Funktionen übernahmen. Es ist teils unorthographisch geschrieben, was normalerweise andeutet, dass der Schreiber den Klang und nicht die Bedeutung der Worte einfangen wollte. Dies ist hauptsächlich für Texte relevant, die gesungen oder rezitiert wurden und deren Sprechakt wirkmächtig war. Die halb erhaltene Tontafel stellt überdies Beziehungen zwischen Göttern sowie zwischen Menschen und Göttern stärker in den Vordergrund, als dies in den anderen Manuskripten der Fall ist. Dies lädt zu einer eingehenden Untersuchung der potentiellen kultischen Rolle des Texts ein.

Die erstmalige Darstellung und umfassende Untersuchung des bislang unbekannten, von mir als “Spotthymne” bezeichneten “Genres” wird um Ersteditionen von Der böse Mund und Frau, die Böses vervollkommnet sowie um englische Neuübersetzungen von Engardu der Idiot und Prächtiger Spross eines Hunds ergänzt.