Philologisches Seminar

Reading Catullus in Pandemic Times

Von Ambiguität(en) und Gleichgewicht(en) in der römischen Dichtung Catulls

Der Blog Reading Catullus in Pandemic Times ist ein Projekt von Studierenden des Philologischen Seminars der Universität Tübingen mit der Unterstützung von Prof. Robert Kirstein und Simon Grund.

Einführung

von Robert Kirstein und Simon Grund

Die Idee zu einem Online-Blog entstand im Rahmen eines Hauptseminars zu Catulls kleineren Gedichten und Epigrammen (carmina minora) im Wintersemester 2020/21. Wie schon die Veranstaltungen des Sommers zuvor stand das Seminar pandemiebedingt unter dem Zeichen digitaler Lehre. Dabei hat sich gezeigt, dass Krisen Antworten provozieren, für die es noch gar keine Fragen gegeben hatte: Oft ergeben sich ja gerade unter dem Eindruck des Plötzlichen, Unerwarteten und Bedrohlichen neue Perspektiven auf Lebensverhältnisse und Alltagspraktiken, die eigentlich als selbstverständlich gegolten hatten. So hat uns die räumliche Entgrenzung des digitalen Lehrformats auch die Möglichkeit eröffnet, die Seminarinhalte in einer Form aufzubereiten, die räumlich und zeitlich von ihrem ursprünglichem Kontext gelöst ist. Der Online-Blog Reading Catullus in Pandemic Times versammelt also diejenigen Ideen und Diskussionen der Studierenden, die in einem digitalen Raum entstanden sind, und macht sie in einer gleichermaßen digitalen Publikationsform zugänglich.

Der inhaltliche Bezug des Seminars zum Titel des Blogs ist aber nicht nur ein pragmatischer, sondern auch ein theoretischer. Die weltweiten Auswirkungen der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass die (post-)moderne Weltordnung nicht geschützt ist von Situationen, die sich der Kontrolle des Einzelnen, aber auch staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungssysteme entziehen. In ähnlicher Weise sind auch die Gedichte Catulls in einer Zeit entstanden, in der vermeintlich sicher Stehendes ins Wanken geriet. Die ausgehende Römische Republik ist geprägt von inneren und äußeren Unruhen, Sezessionen und Bürgerkriegen. Zur gleichen Zeit vollzieht sich innerhalb der römischen Gesellschaft ein generationeller Wandel, bei dem eine Gruppe junger Dichter in ihren Texten einen alternativen Lebensentwurf zum althergebrachten römischen Ideal der ‚Sitte der Vorfahren‘ (mos maiorum) entwirft. Unter ihnen ist auch Catull, über dessen Leben wir nur wenig wissen, der aber in seinen anspruchsvollen und an hellenistischen Vorbildern wie Kallimachos orientierten Gedichten (Asper 2004, 51–53) diesen gesellschaftlichen Umbruch literarisch zugleich reflektiert und mitformt. Seine Texte verarbeiten literarische Motive von hoher Aktualität, darunter Trauer und Verlust (siehe die Beiträge zu carm. 2,3,3b und carm. 101) und eine Liebe, die sich nicht in erotischem Begehren erschöpft, sondern – und das ist neu – eine Art Seelenband und eine innere Verwandtschaft zwischen den Liebenden postuliert (siehe die Beiträge zu carm. 51, carm. 72 und carm. 87). Zugleich haben die Gedichte auch eine eminent politische Facette, etwa wenn sie Spott und wilde Schmähungen gegen die öffentlichen Protagonisten ihrer Zeit richten – unter ihnen keine geringeren als Cicero, Caesar, Mamurra – und damit herrschende Machtgefüge aus der Balance bringen (siehe die Beiträge zu carm. 29, carm. 49 und carm. 57). Damit verbunden klingt der Wunsch nach Stabilität an, nach Erdung und Vertrautheit, etwa in der ländlichen Heimat Sirmio am heutigen Gardasee (siehe den Beitrag zu carm. 31).

Die Gedichte Catulls bilden ein feingliedriges Gewebe mit einer Polyphonie von Motiven, Stimmungen und intertextuellen Anspielungen auf Dichter:innen wie Sappho oder Kallimachos. Und doch hat es sich für uns in Zeiten der Pandemie angeboten, die Texte unter einem ganz bestimmten Blickwinkel zu analysieren. Das Hinterleuchten gesellschaftlicher Diskurse, Hierarchien und Machtstrukturen in einer von Wandel, Unbeständigkeit und Entwicklungsoffenheit gekennzeichneten Zeit können als literarische Reflexionen der Balance gelesen werden, die als „Daseinsmetapher“ ein menschliches Grundbedürfnis nach Sicherheit artikuliert (vgl. Goebel/Zumbusch 2020) und in übertragener Bedeutung „die offene Frage nach der Ordnung […], nach Konsistenz, Ausgewogenheit und Stimmigkeit [stellt], die immer ein Moment des Temporären und Prekären behalten“ (Grüny/Nanni 2014, 9). Dieser heuristische Filter der Balance ergänzt sich gut mit Phänomenen von Ambiguität (vgl. Bauer et al. 2010). Zwar sind Witz und Ironie, Wortspiele und geistreiche Pointen kein Alleinstellungsmerkmal der Dichtung Catulls, sondern vielmehr „the very roots of poetry“ (Empson 1949, 3). Im Fall Catulls kann man aber einen strategischen Einsatz von Ambiguität (oft erotischer Art, vgl. Holzberg 2002) als kalkulierten Effekt in Bezug auf das stadtrömische Publikum des Dichters voraussetzen (vgl. Knape 2021). In den Gedichten Catulls wird Ambiguität umso relevanter, wenn sie sich auf sensible Bereiche wie die Liebe, geschlechtliche Identität (gender) oder politische Machtdiskurse erstreckt, da in diesen Fällen eine bestehende Norm mit einer Pluralität konkurrierender Lesarten konfrontiert wird.

Die Beiträge gehen diesen Fragen in unterschiedlicher methodischer Weise nach. Zwar gab es in den einzelnen Seminarsitzungen immer wieder einen intensiven Austausch über die einzelnen Gedichte im Spannungsfeld von Balance und Ambiguität. Die am Ende entstandenen, auf ‚klassischen‘ Seminarvorträgen aufbauenden, dann aber für das neue Genre wieder stark essayistisch verkürzten Blog-Artikel folgen aber einem jeweils eigenen Entwurf der Studierenden und spiegeln darin im Wesentlichen ihren eigenen Erkenntnis- und Analyseprozess der Texte wider. Daher gebührt ihnen auch gleichermaßen die Anerkennung wie die letzte Verantwortung für die hier vorgestellten Einträge.

Eine digitale Veranstaltung ist für ihr Gelingen maßgeblich von der Mitwirkung aller Beteiligten abhängig. Zuletzt möchten wir uns daher bei den Studierenden des Seminars für die rege Teilnahme, ihr aktives Interesse und die gute und sachlich konstruktive Mitarbeit bedanken. Die klugen Fragen und Ideen, die in den einzelnen Sitzungen vorgebracht und als digitale Blogeinträge hier zur Publikation formuliert worden sind, zeigen einmal mehr eine ungebrochene Aktualität der antiken Welt auch in modernen (pandemischen) Zeiten.

Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung durch die Hochschulkommunikation und das Büro für Gleichstellung der Universität Tübingen.

Robert Kirstein, Simon Grund
 

Literatur

Asper, Markus (2004), Kallimachos. Werke. Griechisch und Deutsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Bauer, Matthias/Knape, Joachim/Koch, Peter/Winkler, Susanne (2010), Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158, 7–75.
Empson, William (1949), Seven Types of Ambiguity, London: Chatto and Windus.
Goebel, Eckart/Zumbusch, Cornelia (2020), Zur historischen Semantik von „Balance“, in: Eckart Goebel/Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften, Berlin, Boston: De Gruyter, 7–34.
Grüny, Christian/Nanni, Matteo (2014), Einleitung, in: Christian Grüny/Matteo Nanni (Hrsg.): Rhythmus - Balance - Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten, Bielefeld: Transcript Verlag, 7–14.
Hild, Christian (2013), Liebesgedichte als Wagnis. Emotionen und generationelle Prozesse in Catulls Lesbiagedichten, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag.
Holzberg, Niklas (2002), Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München: Beck.
Knape, Joachim (2021), Seven Perspectives of Ambiguity and the Problem of Intentionality, in: Martin Vöhler/Therese Fuhrer/Stavros Frangoulidis (Hrsg.): Strategies of Ambiguity in Ancient Literature, Berlin, Boston: De Gruyter, 381–403.