Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wehrhaft. Resilient? Nachhaltig.

Die Nationale Sicherheitsstrategie aus Sicht der Resilienzforschung

von Benjamin Scharte

29.06.2023 · Resilienz wird in der Nationalen Sicherheitsstrategie prominent platziert, aber nicht wirklich ausbuchstabiert. Damit besteht die Gefahr unerwünschter und negativer Konsequenzen bei deren Umsetzung. Um das zu vermeiden, sollte die Bundesregierung einige aktuelle Erkenntnisse der Resilienzforschung stärker berücksichtigen.

Seit dem 14. Juni 2023 hat Deutschland eine Nationale Sicherheitsstrategie. Resilienz spielt darin eine entscheidende Rolle. Was meint die Bundesregierung mit "Resilienz"? Über 40 mal kommen "Resilienz" bzw. das Adjektiv "resilient" in der Nationalen Sicherheitsstrategie vor. Nach einer expliziten Definition sucht man aber vergebens. Wer sich näher mit der Nationalen Sicherheitsstrategie auseinandersetzt, findet ein unübersichtliches Konglomerat unterschiedlicher Bedeutungen von Resilienz. Das ist kein Kritikpunkt per se, denn eine der Stärken des Konzepts besteht gerade in seiner Offenheit. Gleichzeitig besteht bei einer breiten Verwendung die Gefahr, dass unklar bleibt, was überhaupt gemeint ist.

Aus ethischer Perspektive ist es dringend geboten, das jeweilige Resilienzverständnis explizit zu machen. Denn Resilienz ist nicht notwendigerweise etwas Gutes. Resilienz kann zu einer Verstetigung ungerechter Strukturen und Prozesse beitragen. Resilienz kann zur ungerechtfertigten Verantwortungsverlagerung vom Staat auf die Bürger*innen führen. Resilienz kann konträr zu Nachhaltigkeit stehen, weil sie etwa das mehrfache Vorhandensein von Ressourcen erfordert (Redundanz). Aktuelle Erkenntnisse aus der Resilienzforschung können dabei helfen, das Verständnis für die Art, wie Resilienz in der Nationalen Sicherheitsstrategie verwendet wird, zu verbessern und so auf mögliche Kritikpunkte, Zielkonflikte und Leerstellen hinzuweisen. Dazu ergibt es Sinn, auf die mindestens sechs Bedeutungsweisen einzugehen, die sich finden lassen.

  1. `Resilient´ steht als Adjektiv neben `wehrhaft´ und `nachhaltig´ im Titel der Nationalen Sicherheitsstrategie. Das zeigt die atemberaubende Karriere, die Resilienz als politisches Schlagwort in den letzten Jahren gemacht hat. Die primäre Bedeutung wird in der „Sicherung unserer Werte durch innere Stärke“ gesehen. Hier wird Resilienz klar politisch gedacht, als Verteidigungsmechanismus gegenüber menschengemachten Bedrohungen. Diese primäre Bedeutungszuschreibung ist nicht falsch und es gibt Ideen aus der Forschung, an die implizit angeknüpft wird. Ein Beispiel dafür ist Rieschers Umschreibung von Resilienz als „starkdemokratische Sicherheit“, die sich gerade darin ausdrückt, dass Gesellschaften angesichts der Bedrohung durch den Terrorismus an ihren zentralen Werten wie Freiheit und Offenheit festhalten. Resilienz zunächst so zu fassen, überrascht dennoch, da Deutschland seit dem 13. Juli 2022 über eine Resilienzstrategie verfügt, deren Ziel es ist „Menschen und ihre Existenzgrundlagen besser zu schützen sowie die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des Gemeinwesens gegenüber Katastrophen zu stärken.“ Aus Konsistenzgründen wäre es sinnhaft gewesen, auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie Resilienz zunächst wie in der Resilienzstrategie zu definieren.  
  2. Innerhalb des Resilienzkapitels wird von wirtschaftlicher und finanzieller Resilienz gesprochen. Inhaltlich geht es um Rohstoff- und Lieferkettensicherheit. Als erfolgversprechender Weg zum Ziel wird mehrmals Diversifizierung genannt, durch die eine Reduktion von Abhängigkeiten möglich sei. Das ist konsistent mit großen Teilen der sozial-ökologischen Resilienzforschung. Gleichzeitig wird von Effizienzsteigerungen gesprochen. Effizienzmaximierung steht Resilienz aber häufig entgegen und dieser potenzielle Zielkonflikt wird nicht explizit gemacht.
  3. Cybersicherheit steht als Thema ebenfalls im Resilienzkapitel der Nationalen Sicherheitsstrategie. Der Fokus liegt hier stark auf technologischen und rechtlichen Aspekten. Abseits eines Appells, dass Bürger*innen und Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen sollten, geht die Strategie nicht auf gesellschaftliche Aspekte ein. Cybersicherheit ist aber nicht nur ein technisches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem und dementsprechend sollte die Strategie auch einen Fokus auf nicht-technische Lösungen, wie sie etwa in der Forschung zu gesellschaftlicher Resilienz untersucht werden, legen. Beispielsweise ist es zwar zutreffend, dass Bürger*innen ein Risikobewusstsein entwickeln sollten. Verantwortung für ihre eigene Cybersicherheit – wie in der Nationalen Sicherheitsstrategie gefordert – können sie aber nur übernehmen, wenn der Staat sie dazu befähigt. Deshalb sollte beispielsweise Cybersicherheitsforschung nicht nur auf „technologische Umbrüche“ zielen, sondern etwa auch Bildungsaspekte mitberücksichtigen.
  4. Zivile Verteidigung, Zivil- und Katastrophenschutz stehen nicht als Teil von Resilienz, sondern als Teil von Wehrhaftigkeit in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Wichtig ist, dass die Bundesregierung den föderal organisierten Bevölkerungsschutz nicht in seinen grundlegenden Strukturen ändern, sondern im Rahmen des Bestehenden optimieren möchte. Subsidiarität und Proportionalität sollen beachtet werden. Integration, Kooperation und Koordination stehen, wie in der Resilienzstrategie, im Vordergrund. Angesichts der Komplexität sowohl gegenwärtiger und künftiger Krisen als auch der Systeme, die gegenüber diesen Krisen resilient sein sollen, ist das eine gute Nachricht. Offen bleibt aber die Frage, ob aufgrund der Größe der anstehenden Herausforderungen nicht auch über grundlegende und tiefgreifende strukturelle Änderungen diskutiert werden sollte, etwa eine generelle Zuständigkeit des Bundes bei langanhaltenden, systemischen Krisen wie beispielsweise der COVID-19-Pandemie (siehe Punkt 6).
  5. Auch im Nachhaltigkeitskapitel spielt Resilienz eine wichtige Rolle. Wenn es um die Bewältigung der Klimakrise geht, ist neben der Begrenzung (mitigation) die Anpassung an deren Folgen relevant für die Sicherheit Deutschlands. Gerade die sozial-ökologische Resilienzforschung, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen komplexen gesellschaftlichen und ökologischen Systemen beschäftigt, versteht unter Resilienz die Anpassung an sich abrupt und meist negativ ändernde Umweltbedingungen. Das Bestreben der Bundesregierung, eine Klimaanpassungsstrategie und ein Klimaanpassungsgesetz zu erarbeiten, ist daher aus Resilienz-Perspektive sinnvoll und wünschenswert. Bei der Ausbuchstabierung sollte allerdings beachtet werden, dass Resilienz und Nachhaltigkeit nicht notwendigerweise konfliktfrei zueinanderstehen. Diesen Punkt greift die Nationale Sicherheitsstrategie selbst kurz auf, wenn sie vom Beispiel der Energiekrise 2022 spricht, als in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit Flüssigerdgasterminals errichtet wurden. Zielkonflikte dieser Art können in der Nationalen Sicherheitsstrategie nicht gelöst werden, haben aber das Potenzial, selbst zu Sicherheitsproblemen zu führen.
  6. Ebenfalls im Nachhaltigkeitskapitel geht die Nationale Sicherheitsstrategie auf die Verbesserung der globalen Pandemieprävention ein. Dabei finden sich einige Aspekte wieder, die bereits zuvor zu den Themen Katastrophenschutz, Schutz kritischer Infrastrukturen sowie wirtschaftliche und finanzielle Resilienz genannt wurden. Hier beziehen sie sich allerdings spezifisch auf den Ereignisfall Pandemie. Den Ausführungen kann aus Sicht der Resilienzforschung nur zugestimmt werden, die meisten Inhalte waren bereits vor der COVID-19-Pandemie aus wissenschaftlicher Sicht bekannt. Für eine Sicherheitsstrategie ist es aber erstaunlich, dass die gravierenden gesellschaftlichen Folgen, die aus der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie resultierten, und die daraus entstandenen Sicherheitsfragen an dieser Stelle nicht zumindest kurz adressiert werden. Auch hier bietet die Forschung erste Ansatzpunkte zur Aufarbeitung, wenn etwa Fragen nach Vertrauen in Demokratie und Politik im Anschluss an COVID-19 gestellt werden.

Die Nationale Sicherheitsstrategie hat bereits wenige Tage nach ihrem Erscheinen, wenig überraschend, einiges an Kritik auf sich gezogen. Aus Sicht der Resilienzforschung gibt es in der Strategie viele richtige Ansätze und es kann im ersten Schritt nicht erwartet werden, dass in einem derart übergeordneten Dokument zu jedem Punkt Umsetzungspläne konkretisiert werden. Gleichzeitig zeigt die Resilienzforschung, dass Resilienz auch schlecht sein kann. Um dabei zu helfen, negative Aspekte von Resilienz bei der Umsetzung der Nationalen Sicherheitsstrategie zu vermeiden, scheint es sinnvoll, der Bundesregierung und den verantwortlichen Stellen für die nächsten Schritte drei Empfehlungen mit auf den Weg zu geben:

  • Resilienz sollte nicht als Widerstandsfähigkeit missverstanden werden. Das wird der Komplexität moderner Gesellschaften nicht gerecht. Vielmehr sollte es immer um Anpassungsfähigkeit in komplexen Systemen an sich disruptiv ändernde Umweltbedingungen gehen. Anpassungsfähigkeit erlaubt es auch, bisher ungerechte Strukturen und Prozesse in ethischer Hinsicht zu verbessern.
  • Mögliche Konflikte zwischen Resilienz und Zielen wie Effizienz und Nachhaltigkeit sollten proaktiv adressiert werden, damit sie nicht in späteren Umsetzungsschritten zu unintendierten Konsequenzen führen.
  • Gesellschaftliche Aspekte von Resilienz sollten neben Technik, Recht und Politik stärker beachtet werden, und zwar sowohl als Chancen, wenn es um die Fähigkeiten der Bürger*innen geht, als auch als Auftrag, wenn es darum geht, Vulnerabilitäten zu erkennen und reduzieren. Die Aufgabe der Politik besteht darin, ermöglichende Strukturen dafür zu schaffen.

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