Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Kind, Natur und ihre Beziehung

Wie durch offene Resonanzfenster ein Draht zur Welt entsteht

von Carina Betz

10.10.2023 · Um den Herausforderungen des Klimawandels entgegenzutreten und dem Ziel einer nachhaltigkeitsorientierten globalen Gesellschaftstransformation näher zu kommen, braucht es mündige, aktive und kreative Menschen, die offen, mutig und neugierig an vielschichtige Themenkomplexe herantreten. Für dieses Ziel einer stabilen und resilienten Persönlichkeit ist es wichtig, bereits im Kindesalter anzusetzen und Kindern die Erfahrungen des Scheiterns, der Selbstwirksamkeit, der Herausforderung vor schwierigeren, komplexen Situationen im geschützten und begleiteten Rahmen zu ermöglichen. So können sie selbst in ihre Fähigkeiten vertrauen, Frustrationstoleranz aufbauen und zu selbstbewussten, offenen und lösungsorientierten Menschen heranwachsen.

 

Hierfür braucht es Räume und Gegenstände, in und mit denen Kinder ihrer Neugierde freien Lauf lassen und sich ihre für sie adäquaten Herausforderungen suchen können, um diese Fähigkeiten zu erlernen (1). Internationale Studien, die sich mit der Bedeutung von Naturerfahrungen bei Kindern beschäftigt haben, zeigen, dass Naturräume hierfür ideale Voraussetzungen bieten. Raith/Lude haben die 115 relevantesten Studien in ihrem Werk präsentiert (2). Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass sich Natur positiv auf die mentale, soziale und physische Entwicklung von Kindern auswirkt und sie in vielen Kompetenzen und Fähigkeiten u.a. durch Selbstwirksamkeitserfahrungen stärkt. Darunter fallen ein verbessertes Selbstwertgefühl, Kreativität, Selbstvertrauen, Kooperationsfähigkeit, Selbstdisziplin, Selbstständigkeit und vieles mehr.

Die Förderung einer starken Persönlichkeit ist die eine Seite, die spätere Motivation, sich am Ende auch mit den erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen für den Klima- oder Naturschutz einzusetzen, die andere. Es ist nach wie vor nicht wissenschaftlich geklärt, inwieweit sich die kindliche Naturerfahrung auf den späteren intrinsisch motivierten Schutz der Natur auswirkt. Dennoch ist es die Verbindung zur Natur in den frühen Kinderjahren, die die Grundlage dessen legt, was zu einer engen, weniger über den Verstand als vielmehr über das Gefühl vermittelten Mensch-Natur-Beziehung beiträgt (1).

Gemeinsam mit dem Entwicklungs- und Erprobungsvorhaben „Naturerfahrungsräume in Großstädten am Beispiel Berlin“ der Stiftung Naturschutz sowie deren wissenschaftlichen Begleitung durch die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE), stellte ich mir in meiner Masterthesis die Frage nach der Entstehung und Beschaffenheit einer tiefen emotionalen Beziehung zwischen Kindern und Natur, speziell im Naturerfahrungsraum Kienberg in Berlin.

Naturerfahrungsräume sind Räume, die nach speziellen Richtlinien aktiv geplant und errichtet werden, um Kindern vor allem in urbanen Räumen, in denen ‚wilde‘ Brach- und Grünflächen durch Flächenversiegelung stetig abnehmen, das freie Spiel und die Naturerfahrung zu ermöglichen.

Insgesamt wurden 17 Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren mithilfe der Methode des Fotostreifzuges und anschließenden Interviews zu deren Erfahrungen, Begegnungen und Lieblingsplätzen im Naturerfahrungsraum befragt (3).

Als theoretische Grundlage des Konstrukts „Beziehung“ wurde die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosas herangezogen. Resonanz ist laut Rosa als Beziehungsmodus zu verstehen, der sich darin auszeichnet, dass sich der Mensch, in diesem Fall das Kind in einem Modus der Ergriffenheit befindet. Einem Modus der emotionalen Verbundenheit, einem Draht, der anfängt zu vibrieren bis hin zur Transformation des Subjektes selbst, weil es berührt wird und durch seine eigene Wirksamkeit das Gegenüber ebenfalls berührt (4).

Explorativ wurden Indikatoren herausgestellt, mit denen ein Versuch gestartet wurde, Resonanz sichtbar zu machen – beispielsweise durch eine tiefere Auseinandersetzung mit einem Gegenstand oder einem Wesen; ein langanhaltender Fokus bei einer Aktivität; Selbstwirksamkeitserfahrungen; Perspektivwechsel oder schlichtweg der Ausdruck von Begeisterung. All diese Indikatoren weisen darauf hin, dass der Draht zu glühen beginnt und eine Erregung, eine Schwingung, oder eine wechselseitige Auseinandersetzung – also eine Beziehung entsteht. Die Interviews und Fotostreifzüge gaben Einblicke darin, mit wem oder was Kinder in Beziehung treten, was deren Aufmerksamkeit erregt und wessen es bedarf, dass sich dieses erste Interesse zu einer tieferen Beziehung entwickelt.

Letztlich zeigten die Ergebnisse, dass jedes Kind seine eigenen ganz individuellen Resonanzerfahrungen im Naturerfahrungsraum machen konnte. Dabei hatten alle befragten Kinder Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht und sich mit der Natur als bewusstem Gegenüber auseinandergesetzt. Sie erzählten voll Begeisterung von Stöcken, die sie zu Sofakissen verwandelten oder zum Speer umfunktionierten, von selbst erbauten Tipis oder erfundenen Ameisenschleudern, um den Ameisen über den gefährlich - befahrenen Weg hinwegzuhelfen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.

Spannend waren auch die Erkenntnisse über den „Erstkontakt“ zwischen Kind und Natur. Gerade das Unbekannte, nur zum Teil Verfügbare, erregte die Aufmerksamkeit der Kinder, also die Natur als unberechenbares Gegenüber (a). Die Natur als erholungsspendendes Gegenüber (b) mit Orten der Ästhetik, der Ruhe und Erholung sowie des Rückzugsortes wurden zudem als wichtig genannt, ebenso die Natur als inspirierendes Gegenüber (c) durch Anregung der Fantasie sowie Raum zur Entfaltung.

Die Beobachtungen aus dem Interview dienten in erster Linie als Grundlage für Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von (neuen) Naturerfahrungsräumen. Sie geben auch Einblicke darin, dass Resonanzerfahrungen sehr individuell beschaffen sind. Da jedes Kind aufgrund seiner individuellen Symbolwelt von den unterschiedlichsten Entitäten berührt wird, ist Resonanz nicht wirklich planbar. Daher ist es wichtig, Kindern Gestaltungsräume zu geben, in denen eine Vielfalt an Entitäten bspw. durch vielfältige Struktur und Vielfalt an Flora und Fauna sowie verfügbarem Naturmaterial vorhanden ist, um so die Fähigkeiten, mit der Welt in Resonanz zu treten und kreativ zu denken, zu unterstützen (4). Fähigkeiten, die es möglicherweise auch bedarf, um neue Wege für eine nachhaltigkeitsorientierte Gesellschaft zu (be)denken …

Oder um in Michael Endes Worten zu schließen:

„Immer häufiger kam es jetzt vor, daß Kinder allerlei Spielzeug brachten, mit dem man nicht wirklich spielen konnte, zum Beispiel ein ferngesteuerter Tank, den man herumfahren lassen konnte -, aber weiter taugte er zu nichts […]. Vor allem waren alle diese Dinge so vollkommen bis in jede kleinste Einzelheit hinein, daß man sich dabei gar nichts mehr selber vorzustellen brauchte. […] Darum kehrten sie [die Kinder] schließlich doch wieder zu ihren alten Spielen zurück, bei denen ihnen ein paar Schachteln, ein zerrissenes Tischtuch, ein Maulwurfshügel oder eine Handvoll Steinchen genügten. Dabei konnte man sich alles vorstellen.“ (5)

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(1) Schemel, H.-J./Wilke, T. (2008): Kinder und Natur in der Stadt. Spielraum Natur. Ein Handbuch für Kommunalpolitik und Planung sowie Eltern und Agenda-21-Initiativen.

(2) Raith, A., Lude, A. (2014): Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. Oekom Verlag, München. Flyer_Kohler_Startkapital-Natur_210x280_4c.indd (researchgate.net)

(3) Betz, C. (2020): Du (Natur) – Ich (Kind) und unser Draht zueinander: Natur-Resonanzräume in Großstädten. Eine Befragung von Kindern zu ihren Naturbeziehungen im Naturerfahrungsraum Kienberg in Berlin.

(4) Rosa, H. (2019): Resonanzräume für die Stadtgesellschaft und von der Wichtigkeit sie zu schützen.

Vortrag vom 12.09.2019 im Rahmen der Veranstaltung Tempelhofer Wald.

Aufgezeichnet und online verfügbar unter

Hartmut Rosa - YouTube Letzter Zugriff am 20.09.2023.

(5) Ende, M. (1973). Momo. Thienemann, Stuttgart. S.75f.

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