Wissenschaft und Demokratie im Kontext ethischer Reflexion
Unter dem Titel „Wissenschaft und Demokratie im Zeichen ethischer Reflexion“ besprachen Mitglieder des Fördervereins, Mitarbeitende des Ethikzentrums und Alumni einen Tag lang mit dem Internationalen Beirat über drängende Fragen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Demokratie und die Rolle, die Ethiker*innen bei deren Beantwortung spielen können.
Wissenschaft und Demokratie stehen in einem Spannungsverhältnis: In den USA verlassen renommierte Faschismusforscher wie Jason Stanley und Marci Shore aus Sorge über die dortigen Entwicklungen das Land. Demokratische Regierungen in Ungarn, der Türkei und den USA bedrohen die Freiheit der Forschung. Wissenschaftsskepsis bis hin zur Wissenschaftsfeindlichkeit durchzieht Reden und Parteiprogramme rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa. Aber auch jenseits des rechten Randes lässt sich eine gewisse Skepzis gegenüber Stellungnahmen oder Forderungen aus „den“ Wissenschaften“ beobachten.
Angesichts all dieser Entwicklungen haben das Ethikzentrum und sein Förderverein ihr diesjähriges Symposium unter das Thema „Wissenschaft und Demokratie im Zeichen ethischer Reflexion“ gestellt. Mitglieder des Fördervereins, Mitarbeiter*innen des Zentrums und Alumni diskutierten einen Tag lang intensiv in kleinen Gruppen mit dem Internationalen Beirat des Zentrums über drängende Fragen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Demokratie und die Rolle, die Ethiker*innen bei deren Beantwortung spielen können. Die Diskussionen am Vormittag begannen mit Impulsen unseres Internationalen Beirats und deckten ein breites Themenspektrum ab:
In der Diskussion mit Sarah Stroud (UNC Chapel Hill) wurde klar, dass zwei Stärken von Ethiker*innen darin liegen, verborgene Werturteile in Wissenschaft und Politik aufzudecken und andere zu befähigen, dies selbst zu tun. Dies ermöglicht es, weiterführende Fragen zu stellen: Wer entscheidet, welche dieser Werturteile politischen Einfluss gewinnen und sich in Gesetzen oder Regierungshandeln wiederfinden? Wer sollte darüber entscheiden? Für Maureen Junker-Kerry (Trinity College Dublin) gehen diese Werturteile noch tiefer: Grundlegende normative Rahmenbedingungen, wie etwa Verständnisse von Zugehörigkeit, Identität, dem Wir" und den Anderen" sind tief im Selbstverständnis einer Gesellschaft verwurzelt. Eine Aufgabe von Ethiker*innen besteht darin, auch diese deutlich und damit der kritischen (politischen) Diskussion zugänglich zu machen.
Diese Fragen sind umso dringlicher, wenn Nadia Mazouz (ETH Zürich) mit ihrer Analyse Recht hat: der moralische Pluralismus steckt in der Krise. Die bislang in Demokratien mehrheitlich geteilte Grundidee, dass Menschen frei und gleich sind, wird nicht mehr allgemein anerkannt. Zudem erleben wir gerade, so arbeitete sie mit Kolleg*innen des IZEW aus, eine Umkehrung bisheriger Zeitvorstellungen: Die Zukunft erscheint vorprogrammiert. Die (Klima- und Biodiversitäts-) Katastrophe wird kommen. „It is the end oft he world as we know it“. Gleichzeitig entbrennen Kämpfe um die Neuschreibung der Vergangenheit. Wenn wir uns damit nicht abfinden wollen, müssen wir die Probleme, vor denen wir stehen, (schnell) besser verstehen. Wir scheinen am Scheideweg zu stehen: Gelingt uns eine „Transformation by Design“ oder wird es eine „Transformation by Desaster“?
Dass die Gestaltung einer solchen Transformation nicht so einfach sein wird, zeigte die Diskussion mit Margit Sutrop (University of Tartu und Mitglied des estnischen Parlaments): Es bedürfe letztlich einer starken Rolle der Universitäten bei der Ausbildung von Kompetenzen zur ethischen Reflexion, zum Aushalten von Meinungsverschiedenheiten und zur Entwicklung spielerischer und kreativer Methoden, damit sich wissenschaftsbasierte Politik gegen ihre populistischen Konkurrenten durchsetzen könne.
Eine Gruppe um Matthias Kaiser (University of Bergen) eröffnete den zusätzlichen Problemhorizont der Komplexität. Wissenschaft und Demokratie sind in sich schon jeweils sehr vielfältig. Es gibt weder „die“ Wissenschaft noch „die“ Demokratie. Diese beiden komplexen System dazu zu bringen miteinander Lösungen für die Probleme der Gegenwart zu entwickeln, ist schwierig genug. Aber in diesen Tagen brauchen wir nicht nur Entwicklung, wir brauchen Paradigmenwechsel und Entscheidungen, weil die Krisen ein enormes Ausmaß angenommen haben. Zwar sei es gerade die Aufgabe der Wissenschaften, die großen Fragen anzugehen und Wissen zu produzieren, das nicht perfekt, aber „gut genug“ sei, um danach handeln zu können. All dies muss allerdings ohne absolute Fakten und inmitten systemischer Unsicherheiten geschehen. Gerade in dieser Situation sehen die Diskutierenden die Zeit für Ethik gekommen. Ethik hierbei verstanden als Kunst des Zuhörens, Argumentierens und der Konfliktvermittlung.
Bei dem Versuch das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Wissenschaft aufzulösen, darf jedoch nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden, wie eine Gruppe um Jos Welie (Chateau St. André Center for Ethics and Integrity) argumentierte: Wissenschaftsbasierte Demokratie darf nicht bedeuten, genuin politische Entscheidungen in der Wissenschaft entscheiden zu lassen oder sich als Politiker*in hinter „der Wissenschaft“ zu verstecken. Es gibt nicht „die Position” “der Wissenschaft” und selbst wenn es sie gäbe, kann aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ohne zusätzliche normative Annahmen keine politische Handlungsempfehlung abgeleitet werden. Aber auch in der anderen Richtung, der Demokratisierung der Wissenschaft, sind Fallstricke zu vermeiden: Man kann nicht über wissenschaftliche Erkenntnisse abstimmen und man sollte das Erkenntnisinteresse von Wissenschaftler*innen nicht politisch vorgeben. Aber, so arbeitete die Gruppe heraus, es ist möglich, Strukturen und Organisationen (weiter) zu demokratisieren, vom Abbau von Hierarchien bis hin zu Finanzierungsentscheidungen.
Am Nachmittag waren es Impulse von Mitarbeitenden des IZEW, die Diskussionsrunden über Themen anregten, die derzeit am Ethikzentrum bearbeitet werden:
Der Impuls von Uta Müller (Forschungsgruppe „Ethik und Bildung“)“Right Wing Extremism and the Role of Ethical Education” führte zu einer intensiven Diskussion darüber, wie Lehrer*innen angemessen ausgerüstet werden könnten, um mit rechtsextremen Themen angemessen umzugehen. Es wurde festgestellt, dass Lehrer*innen Unterstützung brauchen, um überhaupt entscheiden zu können, worüber im Unterricht diskutiert werden solle und worüber nicht. Nicht jede Äußerung sei es wert, diskutiert zu werden. Wenn man in die Diskussion einsteige, müsse die Lehrkraft in der Lage sein, menschenverachtende Politik adäquat darzustellen und die Folgen von „Hate Speech“ aufzuzeigen. Da sich Rechtsextremisten oft gegen marginalisierte Gruppen richteten, seien die Folgen ihrer Politik und Rhetorik für die Mehrheitsgesellschaft nicht leicht zu erkennen. Zudem wurde betont, dass zwischen rationalen und emotionalen Strategien unterschieden werden müsse. Beide Ebenen müssten jedoch angesprochen werden. Die Gruppe verwies auf eine breite Palette möglicher Strategien: So dürften Lehrer*innen zum Beispiel in ihren Bemühungen nicht vereinzelt bleiben, sondern sollten sich zusammenschließen. Lehrer*innen sollten sich ihrer Bedeutung als Rollenvorbilder bewusst sein. Geschichtsumdeutungen, wie sie rechte Kräfte auch in Deutschland versuchten, sollte die Schule entschieden entgegentreten usw.
Der Beitrag von Marco Krüger (Forschungsgruppe Sicherheitsethik) mit dem Titel "The (contested) role of science for the security of democracy" beleuchtete die vielschichtige Rolle der Wissenschaft im Kontext der Sicherheit von Demokratien. Zunächst stellte er die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Sicherheit: Ist Demokratie primär der Rahmen, in dem Sicherheitspolitik agiert, oder ist sie selbst das zu schützende Gut, das Referenzobjekt von Sicherheit? Anschließend untersuchte er die Position der Wissenschaft in diesem Spannungsfeld. Nimmt sie eine beobachtende Rolle ein oder steht sie im Zentrum der Auseinandersetzung? Welche konkreten Beiträge kann und soll die Wissenschaft zur Sicherheit der Demokratie leisten? Ein weiterer wichtiger Punkt war die Frage nach dem Einfluss der Demokratie auf die Wissenschaft selbst. Welche Rolle spielen demokratische Partizipation und Transparenz in der wissenschaftlichen Forschung und in welchem Verhältnis steht diese zur Öffentlichkeit? Abschließend ging Krüger auf die drängende Frage ein, wie der wachsenden Bedrohung durch die Erosion demokratischer Strukturen adäquat begegnet werden könne. Dabei betonte er die Rolle der Wissenschaft bei der Analyse dieser Bedrohungen und der Entwicklung von Gegenstrategien.
In ihrem Vortrag „Transformative Education (Un)doing Academia“ forderte Nilima Zaman (Doktorandin) eine Transformation der Universität, um Ungleichheiten entgegenzuwirken. Dabei müsse die Wissensproduktion kritisch hinterfragt und die Verantwortung, die aus Wissen erwächst, hervorgehoben werden. Mit ihrem Vortrag legte sie den Grundstein für eine Gruppendiskussion, in der sowohl eigene Diskriminierungserfahrungen geschildert als auch die zugrundeliegenden strukturellen Rassismen in Universität und Gesellschaft thematisiert werden konnten. Betont wurde in der Diskussion die Notwendigkeit, Marginalisierung, Ausschluss und Unterdrückung immer intersektional zu betrachten, da sich verschiedene Diskriminierungsformen wie Race, Poverty und Gender überlagern und neue Formen der Ausgrenzung hervorbringen können.
Der Vortrag von Luzia Sievi (Kompetenzzentrum Nachhaltige Entwicklung) “Follow the Science!? Climate Change, Knowledge and Democracy” und die anschließende Diskussion beleuchteten auf prägnante Weise die komplexen Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und demokratischen Prozessen. Die Gruppe arbeitete heraus, dass das Konzept einer selbstbewusst auftretenden Wissenschaft an sich kein Problem darstelle. Kritisch werde es erst, wenn dieses Konzept einen autoritären Charakter annehme und den Anspruch auf Alternativlosigkeit erhebe. Auch eine moralische Überlegenheit sei abzulehnen: Wissenschaftliche Erkenntnis (besser wissen) impliziere keine moralische Überlegenheit (besser sein). Antiintellektualismus und Wissenschaftsskepsis speisen sich auch aus der Wahrnehmung, dass Wissenschaftler*innen sich anderen überlegen fühlen. Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnisse oft die fundiertesten Erklärungen und Lösungsvorschläge liefern können, leitet sich daraus kein Anspruch ab, sich im demokratischen Diskurs durchzusetzen. Hier wäre Bescheidenheit angebracht, die jedoch in ein Dilemma führt: In der politischen Arena erweist sich „Bescheidenheit“ oft nicht als erfolgversprechende Strategie. Daraus ergibt sich die Herausforderung, wissenschaftliche Fakten in die politische Diskussion einzubringen und ihnen Nachdruck zu verleihen und gleichzeitig eine Haltung der Bescheidenheit zu bewahren.
Mone Spindler (Forschungsgruppe „Co-Laborative Forschung und Innovation“) sprach zum Thema “Integrating ethics. Navigating different degrees of participation in technological development projects”. Sie stellte die Frage zur Diskussion, wann Ethik in Technikentwicklungsprojekte eingespeist werden sollte. Am Ende, um die Ergebnisse zu bewerten? Zu Beginn, als Vorüberlegung, oder immer wieder zu bestimmten Fragestellungen via Workshops? Wenn sie, wie im Ethikzentrum angestrebt, integraler Bestandteil von Forschung und Entwicklung sein soll, wie bringt man diesen Ansatz mit den Vorstellungen der technischen Disziplinen oder mit den Interessen gesellschaftlicher Akteure zusammen? Und gibt es in dieser Gemengelage noch Raum für eigenständige ethische Forschung?
Beatrice Bonami zeigte in ihrem Impuls “Science and Community Engagement” einen alternativen Weg zur klassischen Forschung auf: „Community Engagement“ meint in diesem Fall eine enge Einbeziehung der jeweils beforschten Gruppen in die Forschung, aber auch eine direkte Einbeziehung der Wissenschaftler*innen in das Leben der Gemeinschaft. Die wissenschaftliche Arbeit bekäme so eine direktere Rückmeldung und die Möglichkeit, Anregungen für ein Re-Design der wissenschaftlichen Arbeit bis hin zum Co-Design von Forschungsfragen zu erhalten. Die Vorteile, die die Diskutant*innen durch aus sahen, wie dem verstärkten Dialog zwischen Forschung und Gemeinschaft und der Akzeptanz der Ergebnisse, standen auch Bedenken gegenüber. Zum Beispiel: Kann die Forschung die so geweckten Erwartungen erfüllen? Was passiert, wenn sich die eigenen Forschungsinteressen nicht mit denen der Gemeinschaft decken? Passt ein solch aufwendiger Ansatz in die heutige Forschungslandschaft mit ihren kurzen Projektlaufzeiten?
Auch wenn die eine oder andere Gruppe mit mehr Fragen aus den Diskussionen herausging als sie hineingegangen war, war der Tenor am Ende des Tages klar: Die an diesem Tag angestoßenen Gedanken werden die Arbeit des Zentrums weiter begleiten. Dies war nicht das Ende, sondern ein Anfang.
Verfasst von: Marcel Vondermaßen