Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Das Forschen und Entwickeln erforschen und entwickeln: Ethische und soziale Aspekte integrativer Technikentwicklungsprojekte

von Jacqueline Bellon

19.09.2022 · Wissenschaft, auch wenn sie sich um Neutralität und Objektivität bemüht, findet nie kontextfrei statt. Sie ist als Praxis eingebettet in verschiedene soziale, strukturelle, gesellschaftliche, institutionelle, historische, politische, epistemische und andere Zusammenhänge. Das am IZEW angesiedelte Projekt ESTER (Ethische und soziale Aspekte Integrierter Forschung) untersucht Aspekte insbesondere der Wissenschaftspraxis in drittmittelgeförderten Technikentwicklungsprojekten, in denen es ein explizites Ziel ist, ethische, rechtliche und soziale Aspekte einzubeziehen. Integrierte Forschung ist ein bundesdeutscher Förderungsansatz, der solche Projekte unterstützt.

Als Förderkonzept gibt ‚Integrierte Forschung‘ allerdings keine Methode vor. Die Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte muss stets fallgebunden angepasst werden, dabei aber dennoch gewissen Standards entsprechen. Unter anderem deshalb brauchen wir eine Forschung über diese Forschung: eine Beobachtung und Analyse der gelebten Wissenschaftspraxis. Dabei gilt, dass Integrierte Forschung als Forschungsmodus den Reflexivitätsansprüchen, die sie an Technikentwicklungsprojekte stellt, auch selbst genügen muss. In diesem Sinne kann die Frage nach dem guten Leben, die Frage danach, was wir wann und warum als das gute Leben ansehen und wie Aspekte davon nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach in der Wissenschaftspraxis umgesetzt werden können, gestellt werden. Fragen, die dabei auftauchen sind zum Beispiel:

  • Fragen nach dem grundsätzlichen Verständnis etwa von Fortschritt, Innovation und verantwortungsvoller Forschung, zum Beispiel: Wie stehen internationale, nationale und lokale Vorstellungen darüber, was „Fortschritt“ ist mit Anforderungen an Projekte und den eingereichten Ideen in Verbindung? Wie ist das Verhältnis von „Fortschritt“, „gutem Leben“, Technologien und Techniken? Was versteht wer unter dem Begriff der „Innovation“?
  • Methodologische Fragen, etwa nach Unterschieden verschiedener Forschungs- und Förderungsansätze (z.B. Responsible Research and Innovation, Integrierte Forschung, ELSI/ELSA-Forschung), aber auch nach den Möglichkeiten und Grenzen des Modus der inter- und transdisziplinären Forschung, sowie nach allgemeinen oder spezifischen Kriterien „guter“ Forschung und dem Verhältnis zwischen Forschung und Gesellschaft. Metamethodologisch entsteht dabei die Frage: Kann es normierte, standardisierte Abläufe für den Einbezug ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte in Technikentwicklungsprojekten geben?
  • Praxisorientierte Fragen, z.B.: Wie verläuft der Prozess der Ideenfindung für Technologien und Techniken? Wie werden Teams zusammengestellt? Wie wirkt sich das aus? Wie läuft die Interaktion im Team? Wie wird fachliche Expertise zugeschrieben? Wie ‚denken‘ wir verschiedene beteiligte Akteur*innen? Welche Methoden und Tools werden verwendet, um ethische, soziale und rechtliche Aspekte bei der Entwicklung von Technologien zu berücksichtigen?

Im Rahmen der Projektarbeit untersuchen wir Integrierte Forschung bezüglich dieser Fragen nicht nur ‚am Schreibtisch‘ und aus einzelnen Disziplinen heraus, sondern im Vollzug kollaborativer interdisziplinärer Interventionen, an der gelebten Praxis der Wissenschaft entlang. Dazu betreiben wir ‚Grundlagenforschung‘ – etwa zu Verständnisweisen des Innovationsbegriffs und dem Verhältnis von Technologie und Technik – und werten zum Beispiel Ausschreibungstexte und andere fördermittelleitende Texte aus. Bezüglich methodologischer Fragen sammeln und vergleichen wir Methoden und Tools integrierter Forschung.

Zur Erhebung wissenschaftspraktischer Lebenswelten befragen wir unter Nutzung empirischer Methoden der Soziologie, sowie aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen zu ihren Erfahrungen mit der Entstehung und Genese von Technikentwicklungsprojekten. Gerade in der Phase der Ideenfindung und Teamzusammenstellung sowie in der Phase der Antragsstellung auf Förderung sind verschiedene Faktoren für den Projektverlauf von Bedeutung, vom Zufall und Motivationslagen verschiedener Beteiligter, über Vorstellungen darüber, was ‚Fortschritt‘ ist, bis hin zu Auffassungen dazu, wie in anderen Disziplinen gearbeitet wird. Hieraus ergeben sich potenziell grundlegende Dynamiken schon vor Projektbeginn und ziehen sich dann durch den Entwicklungsprozess hindurch. Zu diesen Themen sammeln und systematisieren wir Erfahrungen von Beteiligten, stellen konkrete Forschungs- und Änderungsbedarfe sowie ‚Best Case Practices‘ heraus und setzen Impulse zur Reflexion auf die gelebte Praxis. Dazu laden wir in Technikentwicklungsprojekte involvierte Wissenschaftler*innen zum gegenseitigen Austausch ein und entwickeln aus der Auswertung dieses Austauschs Forschungsmaterialien. Diese senden wir beispielsweise in ‚Forschungsboxen‘ an weitere Beteiligte des Wissenschaftsbetriebs, die die Materialien bearbeiten, weitersenden und teils im Prozess weiterentwickeln. So können genau diejenigen, die Wissenschaftspraxis am eigenen Leib erleben, selbst mitgestalten, wie diese Praxis beforscht wird und welche ethischen und sozialen Aspekte in der Forschung über die Forschung berücksichtigt werden sollen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/237468

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