Für eine Kultur des Nichtvergessens: Warum das aktuelle Konzept des Corona-Opfers zu kurz greift
von Friedrich Gabel
08.04.2020 · In den vergangenen Wochen wurde das gesellschaftliche Leben immer weiter eingeschränkt: Versammlungen vermeiden, Abstand halten, Zuhause bleiben, Geschäfte schließen. Alles im Dienste einer gesellschaftlichen Solidarität mit den (potenziellen) Opfern des Sars-2 Covid 19 Virus. Da mit diesen Einschränkungen umfassende Herausforderungen für die Menschen in Deutschland, Europa und der Welt einhergehen, gibt es allerorts Kritiker*innen, die eine solche Solidaritätsforderung infrage stellen und stattdessen im Sinne eines Schutzes der Wirtschaft, des zukünftigen Wohlstands und den Schäden, die durch die Quarantänemaßnahmen entstehen, für eine Rückkehr zur Normalität plädieren. Dieser Beitrag nimmt sich dieser Kritik an. Statt einer Ablehnung der aktuellen Maßnahmen und einer Inkaufnahme von zahlreichen Opfern des Virus, soll hier jedoch ausgehend von dieser Kritik für eine Kultur des Nichtvergessens argumentiert werden. Diese erkennt die aktuellen Maßnahmen als sinnvoll für den Schutz des Lebens an, argumentiert aber gleichzeitig für eine Solidarität, welche über die (potentiellen) Opfer des Virus hinausgeht.
Covid-19 ist vor allem deshalb so bedrohlich, weil es weder eine Impfung noch ausreichend (schnelle) Tests oder eine Therapie gibt. Das einzig probate Mittel, welches aktuell zur Verfügung steht, ist die Ansteckungswelle zu verlangsamen, um für all jene potenziellen Beatmungspatienten ausreichend Kapazitäten vorzuhalten. Da die Gefahr eines schweren Verlaufs vor allem für Menschen mit Vorerkrankungen und hohem Alter besteht, gilt es zuhause zu bleiben und diese Menschen zu schützen. Solidarität wird damit einerseits gefordert, damit Bürger*innen vor einer Ansteckung mit dem Covid-19 Virus geschützt werden. Andererseits, um eine angemessene Behandlung sicherzustellen, sollten sie doch erkranken. Indirekt betrifft diese Beschränktheit medizinischer Maßnahmen aber auch Sicherheits- und Rettungskräfte, Pflegepersonal und Ärzt*innen. Sie sind es, die Risikogruppen (etwa in Pflegeeinrichtungen) versorgen, ins Krankenhaus bringen oder medizinisch versorgen müssen; zusätzlich zu all jenen medizinischen Fällen, die ein gesellschaftlicher Alltag mit sich bringt. Solidarisch gilt es auch ihnen gegenüber zu sein.
Demgegenüber steht jedoch die Perspektive derer, die durch die landesweiten Quarantänemaßnahmen teils erhebliche Opfer erbringen. So zeigt sich seit Beginn der Maßnahmen, dass dieser Schutz von gesundheitlichen Risikogruppen und durch die weitgehende Einstellung von wirtschaftlichen Aktivitäten gerade für Solo-Selbständige, Künstler*innen, kleine und mittelständische Unternehmen existentielle Folgen hat, wissen sie doch, dass sie viele finanzielle Einbußen durch Kredite nur verschieben können. Ob sie jemals in der Lage sein werden, diese zu tilgen, daran mag man zweifeln. Auch hier ist bei Ausbleiben geeigneter Maßnahmen mit weiteren zahlreichen Opfern oder gar Suiziden zu rechnen, denn einer existentiellen, eventuell lebenslangen Verschuldung ins Auge zu schauen, ist nicht einfach zu ertragen. Und hierbei geht es für viele nicht bloß um die eigene Existenz, sondern vielmehr um die eigene Verantwortung für die Mitarbeiter*innen, das Familienunternehmen oder die Familie. Hinzu kommen Bürger*innen ganz allgemein, wie etwa Familien, deren Mehrbelastung durch eine Vollzeit Kinderbetreuung zusätzlich zum auch in digitalen Zeiten keineswegs einfach zu bewältigenden Home-Office und ohne Unterstützung der Großeltern nicht unterschätzt werden darf. Auch trifft es alleinerziehende Eltern. Anders, aber zwingend minder belastet werden Singles, die durch eine Einschränkung sozialer und physischer Kontakte herausgefordert werden. Hinzu kommen Menschen mit emotionalen Vorbelastungen. Es sind schließlich die sozio-ökonomisch schlechter Gestellten in unserer Gesellschaft, die mit den jetzigen Einschränkungen zu kämpfen haben: Die Schließung der Tafeln und damit der Wegfall lebenswichtiger Versorgungs- und Unterstützungsleistungen, die besondere Gefährdung von Obdachlosen oder die Situation der von Armut betroffenen Bevölkerungsteilen sind dabei nur einige Beispiele.
Was all diese Lebenssituationen zeigen, ist, dass ein Verständnis der Corona-Krise als Frage der Solidarität mit den gesundheitlichen Opfern eines Virus zu kurz greift. Die aktuell getroffenen Maßnahmen haben Implikationen und Folgen für alle in der Gesellschaft. Doch ist es deshalb angemessen, die verschiedenen Schicksale gegeneinander aufzuwägen? Ist es gerechtfertigt, im Sinne utilitaristischer Bemessungen des größten Glücks der größten Zahl, Menschenleben gegeneinander aufzuwägen? Nun, eine Bejahung dieser Fragen sieht sich großen Problemen gegenüber. Nicht nur, weil die Zahl betroffener Personen auf keiner Seite (Opfer der Pandemie, Opfer der Pandemiemaßnahmen) aktuell absehbar ist und zudem die Art der Betroffenheiten und Bedrohungen grundlegend andere sind. Auch, weil damit das Über-Leben der einen, mit den Wertvorstellungen eines guten Lebens der anderen ins Verhältnis gesetzt wird. Dies wiederum ist aus ethischer Perspektive und gleicher Menschenwürde problematisch.
Es scheint deshalb aus ethischer Perspektive eher geboten, den Umgang mit dem Covid-19 Virus als gesamtgesellschaftliche Frage nach sozialer Gerechtigkeit zu benennen und damit auch Solidarität breiter zu verstehen. In diesem Sinne sollte nicht gegeneinander abgewogen, sondern zusammengedacht werden. Solidarität für die medizinischen Opfer erfordert und bedingt in dieser besonderen Situation ein Bewusstsein für die Folgen unseres Handelns. Es fordert eine Sichtbarmachung und Berücksichtigung aller Schicksale und eine Unterstützung, die weit über akute medizinische, aber auch kurzfristig wirtschaftliche Maßnahmen hinausgehen muss. Es bedeutet zu verstehen, dass sich „Risikogruppen“ über die Zeit wandeln und transformieren werden, von gesundheitlichen Risikogruppen zu Alleinerziehenden, Künstler*innen, Geflüchteten oder Obdachlosen und auch diese Opfer Solidarität verdient haben. Das was jetzt akut medizinisch, kurzfristig wirtschaftlich an Unterstützung gegeben wird, muss mittel- und langfristig gesellschaftspolitische Maßnahmen zur Folge haben und muss bereits jetzt auch einer medialen Verengung vorbeugen. Es gilt damit nicht abzuwägen, sondern Aufmerksamkeit fair und gerecht auf alle Schicksale zu verteilen.
Was damit jetzt und für die kommenden Jahre zentral sein muss, ist eine Solidarität und eine zweifache Kultur des Nichtvergessens für die indirekten Opfer dieser Krise. Das umfasst erstens ein Wachsam-Sein, für all jene die indirekt – also vor allem durch die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 – betroffen sind und jetzt akut Unterstützung brauchen, um zu überleben. Zweitens darf die jetzt geforderte Solidarität zum Schutz der Gesundheit nicht folgenlos werden. So gilt es, auch all jene zu unterstützen, die sich aktuell (gerne) aufopfern, um die Gemeinschaft zu schützen. Dies meint explizit auch das Einhalten gesetzlicher Einschränkungen unter Inkaufnahme ihrer wirtschaftlichen und physische Existenz, welches als verantwortungsbewusste Handlung honoriert werden sollte.
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