Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Reflexionen zu einem (noch) nicht stattgefundenen Feldaufenthalt in Tansania

von Kerstin Schopp

18.04.2020 · Kulturwissenschaftler*innen legen Feldtagebücher an, um wichtige Beobachtungen oder Eindrücke während einer Feldforschung zu notieren. Diese tragen im Nachgang nicht nur zur Auswertung der Ergebnisse bei, sondern werden auch als Grundlage für (Selbst-)Reflexionen verwendet.

Im folgenden Beitrag möchte ich eine solche Selbstreflexion darstellen und zwar über die Situation einer empirischen Forscherin, die vor der Frage steht, ob ihr lange geplanter Feldaufenthalt vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie stattfinden kann, bzw. ob er forschungsethisch zu verantworten wäre. Wenn die nachfolgenden Ausführungen teilweise wie Tagebucheinträge klingen, ist dies also ausdrücklich beabsichtigt.

Das Kontaktverbot und die derzeitigen Reise­beschränkungen treffen alle Forscher*innen hart, die im Feld empirisch arbeiten und dort ihre Daten erheben – ganz gleich, ob das Feld ein Stadtviertel in Tübingen ist oder ein Dorf im Norden Tansanias. In meinem Fall wäre besagtes Dorf tatsächlich eine Station meines Feldaufenthaltes gewesen. Ursprünglich wollte ich dort seit Mitte April Teile der Feldforschung zu Vorstellungen eines guten bäuerlichen Lebens und einer nachhaltigen Bioökonomie bei den Kihamba-Farmern durchführen. Zudem hatte ich vor, die individuellen Verständnisse des „doing sustainable development in farming“ näher zu beleuchten. Ein spannendes Vorhaben, das durch die Corona-Pandemie wahrscheinlich leider erst einmal nicht stattfinden kann.

Und ich muss mir eingestehen, dass dies im Moment richtig ist, auch wenn der Weg zu dieser Einsicht ein längerer war. Dies wurde mir klar, nachdem ich die letzten Wochen Revue passieren ließ und Ordnung in meine innere Auseinandersetzung mit meinem Verständnis für die aktuelle Lage in der Welt und meine eigene Situation brachte. Hierbei habe ich bemerkt, dass ich in den letzten Wochen die fünf Phasen der Trauer, frei nach Elisabeth Kübler-Ross, durchlaufen habe. Selbstverständlich möchte ich dabei unter keinen Umständen den Tod eines Menschen mit dem möglichen Ausfall einer Feldforschung gleichsetzen! In meinen Augen spiegelt dieses Modell, in verschiedenen Abwandlungen, einen Prozess des Loslassens wider. Deshalb erscheint es mir passend, um meine innere Auseinandersetzung in dieser Situation darzustellen.
 

Phase 1 – das Leugnen

Als Corona auch in den deutschen Medien immer mehr thematisiert wurde, habe ich mich, während ich ironischerweise meinen Forschungsplan detailliert ausgearbeitet und NGOs kontaktiert habe, mit folgenden Gedanken beschäftigt: Wir sind weit weg von Corona; die bestätigten Fälle in Deutschland nehmen nur ganz langsam zu, bestimmt hat man es bald im Griff; in Tansania sind noch keine Corona-Fälle bekannt. Es kann doch gar nicht sein, dass ausgerechnet jetzt eine Pandemie auftritt, wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert und es sich dann auch noch ausgerechnet auf das Projekt auswirkt, in dem ich arbeite und promoviere?

Phase 2 – der Zorn/die Frustration

Als klar war, dass die Forschung auf keinen Fall wie geplant Mitte April losgehen konnte, war es weniger Zorn als Frustration. Die ganze Bürokratie mit der Forschungserlaubnis, die Methodenschulungen – monatelange Vorarbeit sollte nun „umsonst“ gewesen sein? Umfangreiche Vorbereitungen waren getroffen worden und entsprechend groß war die Vorfreude. Kontakte waren geknüpft, die ich nun informieren musste, dass sich der Aufenthalt auf unbestimmte Zeit verschieben würde.

Phase 3 – das Verhandeln

In einer „Verhandlungsphase“ mit mir selbst („Was wäre, wenn…“) habe ich die Forschung um einige Wochen nach hinten verschoben oder verkürzt. Schwierig beim Verschieben der Forschung ist, dass dies, aufgrund äußerer Umstände wie einer beantragten und hoffentlich bald bewilligten Forschungserlaubnis für einen bestimmten Zeitraum oder während der einsetzenden Regenzeit im Oktober nur bedingt möglich wäre. Trotzdem ist eine verkürzte Feldforschung nach wie vor denkbar. Vielleicht ist es diese Aussicht, oder die im Projekt eingeplante zusätzliche Feldforschung, die mich fast direkt zu Phase 5 führt.

Phase 4 – die Depression

Entweder ist diese Phase im Ausschlafen nach der Zeitumstellung untergegangen, oder sie wurde fast ganz übersprungen (mögliche Gründe siehe Phase 3). Natürlich hatte ich das Gefühl, die Situation nicht kontrollieren und beeinflussen zu können, oder war traurig, wenn ich mir vor Augen führte, dass die Forschung tatsächlich gänzlich ausfallen könnte. Doch alles in allem fiel diese Phase, im Vergleich zu den anderen, sehr kurz aus

Phase 5 – die Akzeptanz

Es scheint momentan, als könnte dieses Jahr die Feldforschung wahrscheinlich nicht stattfinden. Zumindest nicht in Tansania. Denn dieses Feldtagebuch und das viele Nachdenken über die Situation konfrontieren mich mit einer etwas anderen Art von „Feldforschung“, einer ethischen Auseinandersetzung mit meiner Position in dieser Krise und meiner Verantwortung als Forscherin.

So wurde mir klar, dass ich mich in einer vergleichsweise komfortablen Situation befinde: Deutschland hat keine absoluten Ausgangssperren verhängt und ist (momentan noch) sehr gut fähig, mit der aktuellen Lage umzugehen. Mein Gehalt wird weitergezahlt, ich muss nicht in Kurzarbeit und kann sowohl von zu Hause als auch vom Büro aus arbeiten. Die Projektarbeit kann inhaltlich an die neue Situation angepasst werden und der Fördergeber wird dies (hoffentlich) verstehen.

Wenn ich mir vor Augen führe, wie unterfinanziert und unterbesetzt das Gesundheitssystem in vielen afrikanischen Ländern ist, dass Menschen manchmal stundenlang zum nächsten Arzt unterwegs sind, in Südafrika von der Polizei mit Gummigeschossen auf zu dicht in einer Schlange anstehende Menschen geschossen wurde und die WHO und Afrikanische Union „eine beispiellose Gefahr“ für diesen Kontinent befürchten, fühlt es sich wie ein „first world problem“ an, momentan nicht ins Feld gehen zu können. Trotzdem möchte ich natürlich anmerken, dass mein Problem für mich – sowie für alle Feldforscher*innen, die momentan nicht ins Feld können – real existiert und es durch diese Perspektive nicht unter den Teppich gekehrt werden soll. Persönlich hilft es mir jedoch, einen Schritt zurückzutreten und es in Relation zu anderen momentan herrschenden Problemen zu sehen und zu betrachten.

In meinen Augen gibt es dennoch Wichtigeres als eine erfolgreich durchgeführte Feldforschung. Gemeint sind die Menschen, die dahinter stehen und ihre Schicksale. Es sind nicht nur Menschen, mit denen ich bereits in der Planungsphase einer Forschung in Kontakt kam, wie meiner Research Assistant oder Vertreter*innen von NGOs, sondern die Menschen, mit denen ich im Feld arbeiten würde. Bei einer Feldforschung gilt es stets, sich die Lebensrealitäten der Menschen vor Ort vor Augen zu führen. Dies erscheint mir in Zeiten der Corona-Pandemie von besonderer Relevanz, da sich beispielsweise zwischenmenschliche Beziehungen anders manifestieren können, als zu Nicht-Corona-Zeiten. Hier denke ich nicht nur an physical distancing sondern auch Fragen von Macht und Dominanz. Was also bedeutet die aktuelle Situation für sozial unterrepräsentierte Bauern und Bäuerinnen, mit denen ich gerne geforscht hätte? Könnten sie sich einen Arztbesuch leisten? Was bedeutet es, sich regelmäßig die Hände waschen zu sollen, jedoch unter Umständen kein fließendes Wasser zu haben? Woher wird das Wasser beschafft und welche zeitlichen/finanziellen Ressourcen werden dafür benötigt? Wie kommen Menschen an Informationen und von wem werden diese gestellt?1 Beeinflusst die Krise Marktpreise von Lebensmitteln? Was bedeutet es, als weiße privilegierte Forscherin in dieser Situation zu forschen?

Doch zunächst muss ich den rechtlichen Kontext beachten, der es mir momentan erschwert, auf Feldforschung zu gehen. Zum einen hat die tansanische Regierung am 11. April 2020 angekündigt, alle Passagierflüge nach Tansania auszusetzen, zum anderen schreibt die Universität Tübingen auf ihrer Homepage, dass „von Dienstreisen oder Exkursionen [...] abzusehen“ ist und diese „nur noch aus einem zwingenden dienstlichen Grund durchgeführt werden“ dürfen.

Zusätzlich stelle ich mir natürlich die Frage, wie sinnvoll, ertragreich und nutzbar die Ergebnisse einer Feldforschung in der aktuellen Situation wären. Da Schulen und Universitäten geschlossen sind und Einreisende an den tansanischen Grenzen streng kontrolliert werden, hat die Pandemie Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen vor Ort. Genau im Kontext des „normalen“ Alltagslebens hatte ich jedoch vor zu forschen. Antworten auf meine Forschungsfragen könnten momentan stark beeinflusst von der Corona-Pandemie sein und müssten in diesem Kontext betrachtet und ausgewertet werden. Beispielsweise könnte eine Kleinbäuerin mir nun erzählen, dass für sie zu einem guten Leben dazugehört, Geld für medizinische Notfälle zur Seite legen zu können. In einer anderen Situation könnte sie dies jedoch ganz anders gewichten; so könnte sie dann erst von einer guten Schulbildung für ihre Kinder sprechen oder einen guten Zugang zum Markt erwähnen.2

Schließlich muss ich mir vor Augen führen, dass ich unter anderem nach Vorstellungen eines guten kleinbäuerlichen Lebens forschen möchte. Wenn ich jedoch aus einem Risikogebiet Deutschlands, aus der Risikoregion Europa, nach Tansania einreise, wäre es möglich, dass ich genau dieses gute Leben gefährde oder sogar verhindere. Denn trotz der vorgeschriebenen zweiwöchigen Quarantäne, in die ich mich nach meiner Ankunft begeben müsste, könnte ich das Virus theoretisch noch in mir tragen und in eine dörfliche Gemeinschaft einschleppen, in der es bisher hoffentlich noch nicht existiert. Zudem würde ich als Forscherin in der aktuellen Situation den Menschen meine Privilegien noch mehr als sonst vor Augen führen. Denn im Zweifelsfall könnte ich mir eine ärztliche Behandlung leisten, Wasser und Essen kaufen und im Notfall wieder nach Deutschland reisen. Wie ich damit persönlich umgehen sollte, ist mir auch jetzt noch nicht abschließend klar.

In einer solchen Extremsituation in ein Land zu reisen, in dem es keine gesetzliche Krankenkassen gibt und ärztliche Behandlungen für viele Menschen finanziell nicht erschwinglich ist, in dem bestimmte Güter und Dienstleistungen schnell knapp und teuer werden können und momentan bzw. zukünftig kein normaler Alltag möglich sein wird, und die Menschen dort nach ihren Vorstellungen nach dem guten Leben eines*r Bauern/Bäuerin zu befragen, ist in meinen Augen nicht nur ironisch, sondern auch zynisch.

Also hoffe ich auf eine baldige Verbesserung der Situation, akzeptiere und bitte von Herzen alle anderen (zukünftigen) Feldforscher*innen, ebenfalls einen Schritt zurückzutreten und ihre Arbeit zu reflektieren. Als Reflexionsgrundlage können unter anderem die oben angeführten Punkte des rechtlichen Kontextes, des Benefits oder Verlustes der Situation für die Forschung und der eigenen Rolle (als privilegierte*r Forscher*in und eventuelle*r Corona-Träger*in) dienen. Denn in meinen Augen sind das Wohlergehen und die Solidarität von uns Forscher*innen mit den Menschen und Kolleg*innen vor Ort in einer solchen Situation wichtiger, als neu generierte Daten und deren Publikationen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/176028

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1 Momentan sind die Informationen zu Corona sehr widersprüchlich: während der tansanische Präsident, John Magufuli, die Leute animiert, in Kirchen und Moscheen zu beten, da dies Orte sind, an denen Heilung geschehen kann, wurden vom Premierminister, Kassim Majaliwa, Schulen geschlossen, und öffentlichen Veranstaltungen (Sport, Musik) und politische Versammlungen verboten. (taz, 02.04.2020, Ilona Eveleens: Tansanias gottgläubiger Präsident)

2 Meine Einschätzungen beruhen auf den Ergebnissen meiner Feldforschung in Ekondo Kondo, Kamerun, im Jahr 2013.