Das Ende der Kleinparteien?
Wie die Corona-Krise die Vielfalt der Parteienlandschaft in Deutschland bedroht
von Dr. Marcel Vondermaßen
02.06.2020 · Deutschland bietet den Wahlberechtigten eine große Bandbreite an unterschiedlichsten Parteien. Um bei Wahlen antreten zu können, muss eine Partei jedoch entweder bereits in deutschen Parlamenten vertreten sein, oder genügend Unterstützerunterschriften sammeln. Letzteres ist durch die Pandemie praktisch unmöglich geworden. Droht hier ein Verlust an Heterogenität und Vielseitigkeit in unserer Demokratie?
In der Europawahl 2019 gab es 27 Parteien in Deutschland, die sich erfolglos um einen Sitz im Europaparlament bemühten, 13 wurden hineingewählt. In der Bundestagswahl 2017 traten 34 Parteien an, von denen 7 in den Bundestag einzogen. Die 2017 an der 5%-Hürde gescheiterten Parteien kamen dabei in Summe auf 5% der Stimmen. Dies entsprach knapp 2.320.000 gültiger Stimmen. (Zum Vergleich: Die CSU holte, auf das Bundesgebiet gerechnet, 6,2 Prozent)
Sich für die Bundestagswahl aufzustellen, ist nicht einfach. Nur wenn eine Partei seit der letzten Wahl ununterbrochen durch mindestens fünf Abgeordnete in Landtagen oder im Bundestag vertreten war, ist sie automatisch zur Wahl zugelassen. Trifft dies nicht zu, muss die Partei, neben anderen Voraussetzungen, Unterschriften beibringen. Für die Bundestagswahl müssen 0,1% der Wahlberechtigten (maximal jedoch 2000) pro Bundesland unterschreiben, was derzeit ca. 30.000 Unterschriften bedeutet.
In Zeiten von „physical distancing“ ist eine Unterschriftensammlung jedoch nicht nur unter Umständen rechtlich problematisch, sondern zwingt auch zu einer moralischen Reflexion: Meine eigene Erfahrung im Kommunalwahlkampf stimmt hierbei mit den Erfahrungen von Wahlkämpfer*innen anderer Parteien überein, dass bereits in normalen Zeiten etwa fünf direkte Ansprachen für eine Unterschrift nötig sind. Dadurch würde jede Kleinpartei, die auf der Straße um Stimmen wirbt, für hunderttausende zusätzliche Kontakte sorgen. Wäre eine solche mögliche Weiterverbreitung einer gefährlichen Krankheit im Sinne einer Gewährleistung demokratischer Vielfalt zu rechtfertigen?
Die Kleinparteien teilen sich mit den etablierten Parteien eine zusätzliche Problematik: Bereits jetzt würden normalerweise Aufstellungsversammlungen für die Landtagswahl in Baden-Württemberg stattfinden. Solche Versammlungen sind derzeit jedoch nicht möglich. Wenn das Zeitfenster schrumpft, sind wiederum jene Parteien bevorteilt, die über eine bessere Organisation und personelle Ausstattung verfügen. Dies sind in der Regel jene Parteien, welche bereits Mandate besitzen. Dass dies eben diesen durchaus bewusst ist, zeigt eine Stellungnahme des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen bezüglich der Kommunalwahlen im September 2020. In dieser wird deutlich gemacht, dass eine Verkürzung der Zeitrahmen für die Kandidat*innennaufstellung und Unterschriftensammlungen von den Amtsträger*innen nicht als problematisch eingestuft wird.
Nicht zu überschätzen ist zudem der Werbungs- und Rekrutierungseffekt für eine Teilnahme an Wahlen. Während die etablierten Parteien beinahe tägliche Medienpräsenz erhalten, gelingt es Kleinparteien oft nur im Umfeld von Wahlen größere Aufmerksamkeit zu erzielen. Eine zunehmende Schlüsselrolle spielt hierbei der Wahl-o-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei der Bundestagswahl 2017 nutzten knapp ein Viertel der Wahlberechtigten (knapp 15,7 Millionen) diese Entscheidungshilfe. Dort werden jedoch nur Parteien einbezogen, die tatsächlich zur entsprechenden Wahl zugelassen wurden. Diese Möglichkeit der Bewerbung der eigenen Ideen zu verlieren ist für Kleinparteien kaum zu kompensieren. Sie verlieren damit auch eine wichtige Rekrutierungsmöglichkeit für neue Aktive. Die Bedeutung von Angeboten wie dem Wahl-O-Mat dürfte sich zudem nochmals erhöhen, sollte die Corona-Pandemie länger andauern und klassischen Wahlkampf erschweren.
Insgesamt ergibt sich eine bedenkliche Konstellation: In den Wahlgesetzen sind Pandemien als Ausnahmezustände, die eine Umstellung von Wahlprozeduren nach sich ziehen, nicht vorgesehen. Die Beurteilung der Lage kann daher nicht aus den bestehenden Regelungen abgeleitet werden. Folglich werden neue Entscheidungen notwendig. Die Entscheidungsträger*innen sind jedoch Politiker*innen, welche Parteien angehören, die davon direkt profitieren würden, wenn weniger Kleinparteien zur Wahl anträten. Durch das deutsche Wahlrecht gewinnen sie dabei möglicherweise bei einer Neuorientierung der Wähler*innen, aber sicher bei einer Wahlenthaltung. Denn dadurch, dass nur abgegebene Stimmen bei der Mandatsvergabe gezählt werden, erhöht jede nicht abgegebene Stimme das Stimmgewicht der eigenen Wähler*innenschaft.
Um diese Situation zu ändern, müssten die Verantwortlichen aus den etablierten Parteien vier Schritte absolvieren, der ihrem eigenen politischen Kalkül widerspricht und zusätzlich Eigeninitiative erfordert: Die politisch Verantwortlichen müssten in einem ersten Schritt die problematische Lage der Kleinparteien zur Kenntnis nehmen. Um dies zu erreichen, laufen bereits diverse Petitionen und Kommunikationsversuche der betroffenen Kleinparteien. In einem zweiten Schritt müssten die Verantwortlichen zu der Bewertung kommen, dass ein fairer Wettstreit zwischen Parteien eine Stärkung der pluralistischen Demokratie bedeutet. Schließlich müssten sie drittens einsehen, dass auch Nicht-Handeln handeln bedeutet: Ein Nicht-Handeln hieße in diesem Fall, die geltenden Regeln ungeachtet der Pandemie in Kraft zu lassen und damit das Wahlergebnis zu verzerren. Viertens, müssten sie eine für die eigene Partei vorteilhafte Regelung verändern. Sie müssten also den Erhalt der Vielfalt in der Parteienlandschaft höher einschätzen, als den eigenen potenziellen Stimmen- und Mandatszugewinn.
Dies ist keine einfache Entscheidung. Die politische Landschaft in Deutschland ist derzeit so hart umkämpft, dass bereits ein Stimmengewinn von 2-4% zwischen Regierung und Oppositionsbank entscheiden könnte. Gleichzeitig ist die Lage prekär. Schnell könnte der Eindruck entstehen, die etablierten Parteien würden mit der Beibehaltung der bisherigen Regeln Neugründungen, wie die Bewegung „Widerstand 2020“, im Keim ersticken wollen, um das Entstehen einer weiteren Protestpartei zu verhindern. Es erscheint angesichts der Corona-Proteste gefährlich, auch nur den Anschein zu erwecken, die Wahlmöglichkeiten der Bürger*innen bei den nächsten Wahlen auf Grund von Bestimmungen einzuschränken, die offensichtlich nicht für solch eine Krise gedacht waren.
Aber welche Optionen gibt es nun, mit dieser Situation umzugehen? Die Ideen, um der Problematik zu begegnen, sind vielfältig, wenn auch nicht banal:
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Veränderungen der Fristen zur Sammlung der Unterschriften.
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Angepasste Bestimmungen zur Aufstellung von Kandidat*innen, die „physical distancing“ und Wahlrecht zusammenbringen.
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Pauschale Zulassung für alle Parteien, die innerhalb der letzten Wahlperiode zu einer Landtags- oder Bundestagswahl zugelassen worden sind.
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Reduzierung der nötigen Anzahl von Unterschriften.
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Erhöhung der Anzahl an Parteien, die ein und dieselbe Person unterstützen kann. Bisher kann jede Person pro Wahl nur eine Unterstützungsunterschrift abgeben. Dieses Limit könnte erhöht oder sogar ganz aufgehoben werden. Damit könnten sich Kleinparteien zu Sammelbündnissen zusammenschließen und die Anzahl nötiger Kontakte im Wahlkampf stark verringern.
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Digitale Unterschriften ermöglichen.
Werden verschiedene dieser Ansätze kombiniert, wäre es möglich Kleinparteien die Teilnahme an den Wahlen zu ermöglichen, ohne die Schutzfunktion derjenigen Regelung gänzlich aufzuheben, welche die Aufblähung der Wahllisten und das Unterminieren demokratischer Wahlen verhindern soll.
Handlungsoptionen wären also in Reichweite. Wenn die Bundesregierung und die betreffenden Landesregierungen jedoch nicht schnell reagieren, oder gar versuchen, Vorteile aus der Krise zu ziehen, könnte die Corona-Pandemie das politische Parteienangebot bei den kommenden Wahlen stark ausdünnen. Dieser Vorgang besitzt sogar das Potenzial das Vertrauen in die Legitimität der Demokratie zu erschüttern, wenn ein erheblicher Teil der über 2,3 Millionen Wähler*innen von Kleinparteien feststellen muss, dass ihre letztmalige Wahloption ihnen diesmal vorenthalten wurde.
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