Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Über Zerrissenheit: (K)eine Antwort auf die Frage des richtigen Verhaltens nach 3 Monaten Distanz

von Friedrich Gabel

20.06.2020 · Sei es beim Ansehen der Bilder von vollen Ostseestränden, bei den eigenen Überlegungen zum Besuch von Freunden und Familie oder im Zuge der weltweiten Demonstrationen gegen Rassismus, die aktuelle Lockerungswelle und das Verhalten von Menschen in Deutschland lösen bei mir ein Gefühl innerer Zerrissenheit aus. Diese Zerrissenheit ist nicht zuletzt eine moralische Zerrissenheit, denn mein eigener Anspruch verantwortungsvoll zu handeln und andere nicht zu gefährden, ist konfrontiert mit einer Wirklichkeit, in der mir das Wissen fehlt, um eben dies zu beurteilen. Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in meine Auseinandersetzung mit der Frage verantwortungsvollen Handels im Kontext einer abflauenden Pandemie. Dabei komme ich nicht umhin, dass eben diese Zerrissenheit aktuell jeden meiner Kontaktversuche begleitet. Dieser Beitrag repräsentiert meine persönliche Auseinandersetzung mit der Frage und ist an der ein oder anderen Stelle bewusst etwas zugespitzt.

Lockerungen, Lockerungen, Lockerungen. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe aktuell das Gefühl, dass man gar nicht so schnell gucken kann, wie irgendwo in Deutschland die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie zurückgefahren werden. Und ich, ich sitze nun seit über drei Monaten zuhause, arbeite dankbarer Weise ohne größere Einschränkungen täglich im Home-Office und meide soziale Kontakte. Naja, zumindest meistens. Letztes Wochenende hatten wir ein befreundetes Paar zu Besuch und haben uns in einem Raum getroffen und einige Stunden miteinander verbracht. Und ich muss auch gestehen, es waren vielleicht nicht immer 1,5 Meter Abstand. Naja und dann war da noch der Abschied, ach man verfällt so schnell wieder in alte Muster und plötzlich umarmt man die Menschen, die man mag.

Kurz darauf fühlte ich mich irgendwie schuldig. Einerseits spüre ich innerlich ein Unbehagen, wenn ich sehe, wie Menschen, Abstandsregelungen und Maskenpflicht nicht berücksichtigen, andererseits möchte auch ich langsam zur Normalität und sozialen Kontakten zurückkehren. Ähnliches gilt, wenn ich darüber nachdenke meine Familie zu besuchen. Sie leben einige Autostunden entfernt, sodass eine Übernachtung notwendig ist. Zugfahren? Naja, nach allen Berichten aus dem näheren Umfeld hätte ich da noch mehr Angst, den Faktor X zu erhöhen und vielleicht so meine Familie zu gefährden. Hinzukommt, dass meine Eltern selbst große Verantwortung tragen und in ihrer täglichen Arbeit Menschen pflegen. Also doch noch verschieben? Und was macht man dann? Mit 1,5 Meter Abstand spazieren gehen, reden, essen?

Klar, irgendwie erzeugen die gesunkenen Verbreitungszahlen und Reproduktionszahlen sowie die politischen Lockerungen den Eindruck „Wir haben es geschafft Leute, Corona, das war‘s!“. Aber war es das wirklich schon? Was ist mit der oft erwähnten zweiten Welle? Sollten wir nicht weiterhin Abstände einhalten, Kontakte reduzieren und die Bewegungsfreiheit einschränken, um die Gemeinschaft zu schützen und die Gefahr schwerer Verläufe zu verhindern? Wie ist das mit der viel thematisierten Verantwortung für einander? Insbesondere dann, wenn eben dies ohne existenzielle Probleme fürchten zu müssen möglich ist? Nicht jede Lebenssituation lässt die Reduzierung direkter physischer Kontakte so leicht zu wie meine. Ist es daher nicht meine gesellschaftliche Pflicht, vielleicht sogar ein Gebot der Solidarität, dass ich noch etwas länger im digitalen Raum Freunde und Familie treffe, um die Gefahr einer zweiten Welle zu reduzieren? Gleiches gilt für die Frage des Ausgehens, des Urlaubs. Auch wenn ich es jetzt darf, sollte ich tatsächlich schon innerhalb oder gar außerhalb Deutschlands reisen, wenn ich es nicht muss?

Mehr noch als diese privaten Fragen, beschäftigt mich all dies aber mit Blick auf die Frage des Demonstrierens. Wenn Black Lives Matter nach einem Statement für soziale Gerechtigkeit verlangt und Gleichberechtigung wie auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Privilegien der Weißen fordert, dann sieht man, wie spannungsgeladen Bodo Ramelows Plädoyer für eine eigenverantwortliche Einhaltung von Abstandsregelungen im Kern ist. Nicht nur bin ich unsicher was jetzt wichtiger ist: Auf die Straße gehen, für das Richtige demonstrieren und die bei Demonstrationen unweigerliche Nähe vor dem Hintergrund, dass man ja draußen sei und Maske trage, in Kauf nehmen. Oder zuhause bleiben und nach anderen Wegen suchen, dauerhaft eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an (auch der deutschen) Gesellschaft zu gewährleisten und damit das Risiko einer Selbst- und Fremdinfektion zu reduzieren. Infektionen vermeiden oder für eine gerechtere Gesellschaft eintreten, beides ist enorm wichtig, für beides kann ich eine gewisse Verantwortung übernehmen. Für beides kann ich sie aber auch einschränken oder ablehnen und das aus guten Gründen. Denn beides tötet, (struktureller) Rassismus ist keineswegs eine geringere Gefahr als ein global verbreitetes Virus. Beide treffen bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders hart, beide werfen Fragen sozialer Gerechtigkeit auf, beide regen eine grundlegende Diskussion über aktuelle gesellschaftliche Strukturen an.

Was all diese Beispiele zeigen, ist eine innere Zerrissenheit; keine Angst. Vielmehr möchte ich verantwortungsvoll handeln, ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass es nicht zu einer zweiten Welle kommt. Aber wie? Wie gehe ich damit um, dass einige Menschen, die Lockerung der Maßnahmen als Rückkehr zu Verhältnissen wie vor dem Ausbruch des Virus in Deutschland interpretieren? Wie gehe ich damit um, wenn sich Menschen nicht mehr an den vorgeschriebenen Abstand von 1,5 Metern halten, oder sich in großen Gruppen treffen? Ja, zwischen Alarmismus und Ignoranz liegt ein großes Spektrum, aber ist es denn überhaupt meine Verantwortung, andere auf ihr Verhalten hinzuweisen und zu bitten auch weiterhin Maßnahmen einzuhalten, um die Verbreitung zu stoppen? Gerade wenn ich es doch selbst überhaupt nicht weiß: Seit die Zahl der Neuinfektionen drastisch zurückgeht, sich Ministerpräsident*innen in Lockerungen überbieten und der wirtschaftliche Ausweg aus der Krise im Zentrum steht, fehlt mir, ehrlich gesagt, jede Einschätzung darüber, ob die Lage nicht mittlerweile vollkommen unter Kontrolle ist. Die aktuell immer wieder stattfindenden lokalen Großausbrüche, wie in Göttingen, Frankfurt oder Tönnies, lassen zumindest vermuten, dass die Bedrohung durch das Virus auch in Deutschland noch nicht gänzlich vorüber ist.

Dieser Beitrag bleibt, wie die Überschrift vermuten lässt, eine Antwort schuldig. Möglicherweise gibt er aber implizit doch einen Vorschlag. Wenn uns das Wissen fehlt, um zu beurteilen, wie verantwortungsvoll gehandelt werden kann, dann bleibt nur, dass eigene Handeln selbst kritisch zu reflektieren und im Lichte der aktuellen Situation selbst immer neu zu bewerten. Was für die alleinlebende Person eine legitime Handlungsoption sein kann, ist für Personen, die für andere Verantwortung tragen womöglich anders zu bewerten. Kurz, es bleibt nur selbst ethisch zu reflektieren und die verschiedenen Handlungsalternativen im Lichte der vorhandenen Informationen zu betrachten und Widersprüche aber auch mögliche Fehlentscheidungen zu akzeptieren. Wir befinden uns in einer Situation moralischer Unsicherheit. In jedem Fall gilt jedoch, dass wir uns bewusst machen, in wie weit wir mit unserem Handeln, Andere gefährden und ihnen damit eine bewusste Verantwortungsübernahme absprechen.

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