Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Schlafschafe und Covidioten

Über Moralisierung in politischen Debatten

von Dr. Luzia Sievi und Dr. Marcel Vondermaßen

15.10.2020 · Der Ton zwischen den Kritiker*innen und Befürworter*innen der Corona-Maßnahmen ist bisweilen rau. Brave und fügsame „Schlafschafe“ heißt es auf der einen Seite über diejenigen, die den Gesundheitsratschlägen und staatlichen Auflagen folgen. Als „Covidioten“ und „Aluhutträger*innen“ werden wiederum die Kritiker*innen bezeichnet. Während beide Seiten einander verbal angehen, gibt es einen Vorwurf, der hauptsächlich von Seiten der Gegner*innen von Corona-Maßnahmen lautstark erhoben wird: Moralisierung.

Der Vorwurf der Moralisierung kam dabei nicht erst mit der Corona-Krise auf. Gerade von rechtspopulistischer Seite heißt es seit Jahren, die Regierung, die Linken, die Eliten, oder wie die politischen Gegner*innen jeweils bezeichnet werden, würden moralisierend argumentieren, also Sachfragen, oder bislang nicht moralisch aufgeladene Begriffe, Problemfelder oder Handlungen in „gut“ und „böse“ aufteilen. In diesem Fall bedeutet dies, dass sie jene als rücksichtslos, unsozial und unmoralisch einstuften, welche sich nicht den Maßnahmen gegen die Pandemie unterwerfen wollen. Damit griffen sie in unverhältnismäßiger und undemokratischer Weise in die Lebenswelt anderer ein, indem sie ihnen die eigenen Vorstellungen des Guten aufzwängen. Die Moralkeule, so der Vorwurf, würde immer dann geschwungen, wenn man die Gegenseite mundtot machen würde.

Der folgende Beitrag stellt klar, dass Moralisierungen von allen politischen Seiten vorgenommen werden. Es wird gezeigt, dass die Intentionen hinter Moralisierungen sich jedoch deutlich unterscheiden. Der Artikel schließt mit einem Hinweis auf jene Fallstricke, die Akteur*innen jenseits des Rechtspopulismus beachten müssen, wenn sie ein Problem moralisieren wollen.

Der Vorwurf von Moralisierung ist nicht neu. Er tritt in den letzten Jahren allerdings vermehrt dann auf, wenn Konflikte betrachtet werden, in denen Rechtspopulist*innen und/oder Rechtsextreme, im Folgenden als „die Rechte“i zusammengefasst, Teil einer der Konfliktparteien waren. 2015 argumentierte die Rechte rund um die Aufnahme syrischer Vertriebener: „Gutmenschen“ würden mit ihren humanistischen, idealistischen und moralischen Vorstellungen von Gastfreundschaft Deutschland große Probleme mit Integration, „Ausländerkriminalität“ und Überfremdung aufbürden. Im Konflikt um die Diesel-Fahrverbote war von „Gängelung“ und „Verbotsparteien“ die Rede. Schlagwörter in anderen Konflikten sind „Cancel Culture“, „Political Correctness“, oder „Tugendterror“. Es ist eine zentrale rechte Argumentation, dass „die Linke“, „die Grünen“, „die Medien“, „die da oben“, „alle etablierten Parteien“ Probleme moralisieren würden, um Gegenmeinungen zu diskreditieren.

Tatsächlich moralisieren Verteidiger*innen der pluralistischen Demokratie mitunter, wenn sie gegen rechtspopulistische Vorstellungen einer identitären Demokratie agieren. Moralische Vorwürfe sollen dabei deutlich machen, wo von Seiten der Rechten demokratische Grenzen und Grenzen des Sagbaren überschritten werden. Ob diese Moralisierung zielführend ist, wird mittlerweile vielfältig diskutiert (vgl. etwa Jörke & Selk 2015; Fuhs 2019). Wenn Moralisierung beispielsweise angewendet wird, um andere aus dem Diskurs auszuschließen, erodiert sie das Fundament der Demokratie. Mit Begriffen wie „Brauner Rand“, „Covidioten“ oder „Pack“ wird genau dies bezweckt. Hier werden Menschen, speziell mit rechtskonservativen Lebensvorstellungen angegangen, nicht jedoch deren Argumente entkräftet. Mehr noch, diese Aussagen, insbesondere von Personen mit Machtpositionen, nutzen rechten Populist*innen, da sie sehr gut zu deren Narrativ als Opfer, als Unterdrückte und Ausgeschlossene passen.

Doch bei der (berechtigten) Diskussion über Moralisierungen gegen die Rechte wird oft vergessen, dass rechte Populist*innen ebenso moralisieren: Sie sehen sich ihrerseits als Verteidiger*innen, die ihre traditionelle Lebenswelt erhalten und vor links-grüner Moral schützen. Anderen Politiker*innen unterstellen sie Betrug, Egoismus und Doppelmoral und verurteilen sie damit moralisch.

Während Moralisierungen in allen politischen Lagern auch deswegen entstehen, weil sie sich jeweils moralisch im Recht sehen, ist für Populist*innen Moralisierung ein Kernbestandteil ihrer Ideologie: Cas Mudde zeigt auf, dass im Kern der populistischen Ideologie ein moralisches Gefälle besteht, zwischen dem reinen und guten Volk einerseits und der korrupten und egoistischen Elite andererseits (Mudde/Rovira Kaltwasser 2012: 8). Populist*innen sehen sich selbst als Teil des tugendhaften Volkes und damit moralisch überlegen an. Sie stellen sich dabei oft als Opfer durch die Unmoral der abgehobenen Eliten dar.

Dies gilt in Deutschland insbesondere für die Rechte, die mit ihrem dezidierten Bezug auf bestimmte traditionelle Lebensformen besonders dezidierte Vorstellungen davon vertritt, was ein gelingendes Leben ausmacht. Trotz aller ihrer Inszenierungen als sachlich und diskussionsbereit, können die rechten Akteur*innen daher anderen Meinungen nicht auf Augenhöhe begegnen. Dies wird durch einen anderen Kernanspruch rechter Populist*innen noch verstärkt, den Jan Werner Müller den „moralischen Alleinvertretungsanspruch“ nennt: Sie (die Wortführer*innen der Rechten) und nur sie seien diejenigen, die das wahre Volk repräsentierten. Wer ihnen nicht zustimme, „ist automatisch nicht Teil des wahren Volkes und zählt damit moralisch und vor allem auch politisch nicht.“ (Müller 2016)

Hier zeigen sich zwei essenzielle Unterschiede zwischen einer Debatten-Strategie der Moralisierung auf Basis eines Alleinvertretungsanspruchs und einer Moralisierung aus dem Gefühl heraus, in einem Punkt moralisch im Recht zu sein. Letzterer fehlt meist das strategische Element. (Dies trifft auch auf jene Moralisierungen von rechts zu, die nicht populistisch motiviert sind.) Zweitens ist die Prämisse der meisten Gegner*innen des Rechtspopulismus die Diversität der Gesellschaft, die einen Alleinvertretungsanspruch gerade nicht zulässt. Während rechtspopulistische Moralisierungen zum Ziel haben, die lebbaren Lebensmodelle einzuschränken, zielt die Moralisierung ihrer politischen Gegner*innen darauf ab, die Offenheit der Gesellschaft zu erhalten (oder zu erhöhen).

Wenn Moralisierungen also überhaupt verwendet werden sollen, ergeben sich vor diesem Hintergrund (mindestens) vier Einschränkungen, will man problematische Fallstricke vermeiden (weitere Bedenken gegen die Moralisierung politischer Konflikte, zum Beispiel eine Simplifizierung durch Unterteilung in gut/böse, die Vernachlässigung anderer Problemdimensionen, mögen dazu kommen, wenn die Frage aus anderen Blickwinkeln, als dem hier beschriebenen, betrachtet wird):

  • Eine klare Abgrenzung von Person und Meinung/Handlung muss gegeben sein, was grobe Verallgemeinerungen (Covidioten, Pack) und eine schlichte Unterteilung in gute und böse Menschen ausschließt.

  • Ein strategischer Einsatz von Moralisierungen ist abzulehnen, da er konstruktive Kommunikation erschwert und das (Opfer-)Narrativ rechter Populist*innen nur bestärkt. Dies gilt insbesondere, wenn Moralisierung genutzt werden soll, die Diskussion über eine Position oder ein Argument der Gegenseite zu vermeiden, oder zu beenden.

  • Moralisieren aus einer überlegenen Machtposition heraus muss besonders abgewogen werden. Denn Moralisierungen setzen diejenigen, die damit konfrontiert werden oft unter großen Druck, ihre eigenen Vorstellungen, Einstellungen und Lebensmodelle zurückzustellen, oder aufzugeben. (Möhring-Hesse 2013: 156)

  • Wer moralisiert, sollte stets beachten, ob dies mit dem Ziel geschieht, die Möglichkeiten in der Gesellschaft, ein gelingendes Leben zu führen, zu erhöhen.

Der Anspruch an Moralisierungen muss daher hoch sein, ein Einsatz wohlüberlegt.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/197228

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i Zur genaueren Erläuterung, warum hier der Begriff „die Rechte“ oder die „rechte Argumentation“ gewählt wird, siehe Bescherer u.a. 2019: 5.