Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Antwort auf Sievi/Vondermassen Schlafschafe und Covidioten

Spaltung zeigen?! Ein Diskussionsbeitrag zur Moralisierung politischer Debatten

von Manuel Dieterich

25.01.2021 · Der Beitrag „Schlafschafe und Covidioten“ von Luzia Sievi und Marcel Vondermaßen stellt einen guten Ausgangspunkt für die Diskussion von Moralisierungen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung rund um die Corona-Maßnahmen dar. Im Folgenden werde ich anhand dieses Beitrags exemplarisch die Schwierigkeit diskutieren, wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit moralisierten Themen gegenstandsangemessen erfolgen kann, ohne dass dabei letztlich nur wieder für sich selbst eine überlegene moralische Position beansprucht wird.

Die Autor*innen stellen bezüglich der Auseinandersetzungen um die Corona-Maßnahmen völlig zu Recht fest, „dass Moralisierungen von allen politischen Seiten vorgenommen werden“ (siehe etwa die beiden Kampfbegriffe der Überschrift), der Ton auch „bisweilen rau“ sei und somit insgesamt ein hoher Moralisierungs- und Polarisierungsgrad herrsche. In moralisierungskritischer bzw. -differenzierender Manier ziehen sie am Ende das Fazit, dass der „Anspruch an Moralisierungen […] hoch sein“ muss und ihr „Einsatz wohlüberlegt“. Ich möchte aus einer Perspektive, welche wissenssoziologisch die Bedingungen und Kontexte von Moral, Kritik und Rechtfertigung untersucht, kritisieren, dass ihr Beitrag es versäumt, seine eigene Eingebundenheit in die moralisierte Auseinandersetzung zu reflektieren. So läuft, obwohl die beiden Autor*innen die Polarisierung und Moralisierung der Debatte beanstanden, ihre Argumentation doch selbst wieder auf eine moralisch-dichotome Unterscheidung bezüglich der Moralisierungen hinaus, also auf eine Moralisierung 2. Ordnung.

Diese Verschiebung der moralischen Beurteilung auf eine andere Ebene erfolgt einerseits über die Gegenüberstellung von legitimen und illegitimen „Intentionen hinter Moralisierungen“ und andererseits hinsichtlich der Ziele der Moralisierungen, die mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft korrespondieren. Bezüglich der Intentionen unterscheiden die Autor*innen zwischen dem „Gefühl […] moralisch im Recht zu sein“ als legitimen Grund für Moralisierungen und demgegenüber einem illegitimen „Alleinvertretungsanspruch“, der nicht akzeptiert wird, als Grundlage für Moralisierungen. Zwar gestehen die Autor*innen auch rechten Moralisierungen zu, dass diese aus dem legitimen erstgenannten Grund motiviert sein können, allerdings spielt dies im weiteren Fortlauf keine Rolle mehr und wird daher letztlich den linken Moralisierungen zugeschrieben. Hinsichtlich der Ziele hinter den Moralisierungen, also der als erwünscht imaginierten Gesellschaft, stellen sie gute (linke), da Diversität und „die Offenheit der Gesellschaft“ erhaltende bzw. fördernde und schlechte (rechte) Ziele, die einschränkend wirken würden, gegenüber.

Die Argumentation der beiden Autor*innen arbeitet also mit Moralisierungen 2. Ordnung, da die Intentionen hinter den Moralisierungen und die Ziele der Moralisierungen moralisch evaluiert werden. Damit tragen sie auf einer anderen Ebene zur Reproduktion einer dichotomen Perspektive und damit auch zur Polarisierung bei. Die Verschiebung der Moralisierung verbleibt damit selbst innerhalb der kritisierten Praktik des Moralisierens und verkennt meines Erachtens den Kern des Problems. Dieser besteht darin, dass es unterschiedliche Narrative bzw. Vorstellungen davon gibt, wie das gute Leben, die gute Gesellschaft und der Weg dorthin aussehen und wie Leid vermieden werden könnte. So zeigte etwa Arlie Hochschild[1] für Tea-Party Anhänger*innen und Trump-Wähler*innen in den Südstaaten der USA auf, dass diese sich grundsätzlich auf dieselben moralischen Werte wie Linksliberale beziehen, also Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Fairness, etc. Allerdings evaluieren sie die gegenwärtige Situation und wie darin Un-/Fairness, Un-/Gerechtigkeit, etc. angeordnet sind gänzlich anders. Die Differenz besteht also nicht in den Intentionen oder Zielen, sondern in grundsätzlich unterschiedlichen Wahrnehmungen der Gesellschaft, welche sich aus grundverschiedenen, zugrundeliegenden Weltsichten speisen. Diese sind kollektiv geteilte moralische und emotionale Sichtweisen auf den Aufbau der Gesellschaft und wie diese sein sollte. Die meisten der rechten (sowie linken) Positionen zielen nicht auf die Erzeugung von Leid in der Welt ab, sondern auf die Verbesserung der Umstände in ihrem Sinne bzw. in Einklang mit ihrer Weltsicht.

Was bedeutet dies für die Debatte um die Corona-Maßnahmen und den kritisierten Beitrag? Anstatt zu weiteren Moralisierungen (egal ob 1. oder 2. Ordnung, wie bei Sievi und Vondermassen) beizutragen und die Polarisierung so voranzutreiben, sollten wir auf Reflexion setzen und unsere eigenen Verstrickungen, unsere eigene Relationalität in der jeweiligen Auseinandersetzung bedenken. Das ‚Problem‘ der Moralisierungen lässt sich nicht lösen, indem wir diese lediglich auf eine andere Ebene verschieben. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass es andere Weltsichten gibt, über deren Adäquanz natürlich miteinander diskutiert werden kann und sollte. Anstatt aber den einfachen Weg zu gehen und ‚die Anderen‘ bzw. deren vermeintliche Intentionen und Ziele moralisch abzuwerten, sodass keine inhaltliche Auseinandersetzung mehr nötig und möglich ist, sollten wir versuchen, den Grad der Moralisierung niedrig zu halten. Tendenziell bringt ein höheres Maß an Moralisierungen in Auseinandersetzungen aufgrund der damit einhergehenden dichotomen Unterteilung in moralisch gut bzw. schlecht eine verstärkte Polarisierung mit sich und trägt damit zur gesellschaftlichen Spaltung bei. Insofern führen Moralisierungen meist nicht zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte, sondern erschweren einen pluralen Konfliktaustrag und die Entstehung von Kompromissen.

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[1] Hochschild, Arlie (2016) Strangers in Their Own Land. New York* The New Press.