Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Friedenslogische Reflexion in Deutschland verwendeter Narrative über den Krieg in der Ukraine

von Cora Bieß und Dr. Marcel Vondermaßen

10.03.2022 · In den vergangenen Tagen war in Reden von Politiker*innen, aber auch auf Kundgebungen oder in Leitartikeln und Interviews vielfach vom „ersten Krieg in Europa seit 75 Jahren“ zu lesen. Nachdem die Kritik daran schnell hörbar wurde, schwenkten manche Äußerungen auf Formulierungen um, wie „der erste Angriffskrieg auf europäischem Boden“, „Zeitenwende“ oder „das Ende der Friedensordnung in Europa“. Andere, wie z.B. Josef Joffe in der Zeit, bleiben bei „77 Jahre Frieden“ in Europa, der nun von Putin beendet worden sei (Die Zeit 03.03.2022: 11). Der folgende Artikel reflektiert, inwiefern solche Narrative konfliktschürend wirken und ethisch problematisch sind.

Narrative sind wirksam, wenn sie von einer Mehrheit der zu erreichenden Personen unabhängig vom Wahrheitsgehalt geteilt werden und dadurch an Deutungshoheit gewinnen. Wirksamkeit darf hierbei nicht mit Akkuratheit gleichgesetzt werden. Speziell zugrunde liegende Logiken, die hinter Narrativen stehen, können in extrem beschleunigten Entwicklungsprozessen, wie sie in den Tagen seit Beginn der Angriffe auf die Ukraine stattfinden, leicht übersehen werden. Insbesondere, wenn sie zu einer vorherrschenden Erklärung werden und alternativlos scheinen. Je nachdem, welche Erzählungen eines Konflikts geglaubt werden, motivieren sie Individuen zu unterschiedlichen Handlungen und formen Haltungen und Strukturen. Ein Wechselspiel entsteht, bei dem konkrete Handlungen in Narrative einfließen und Narrative wiederum Einfluss auf Handlungen, gesellschaftliche Praktiken und Strukturen ausüben. 

Folglich haben auch Erzählungen und Narrative die aktuell im deutschen Diskurs geformt werden, Einfluss auf gesellschaftliche Praktiken und Strukturen, beispielsweise indem Kanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ einläutet und damit 100 Milliarden Sondervermögen für den Wehretat rechtfertigt. Ohne die Reflexion von Konfliktdynamiken sowie die Beachtung von Eskalations- wie Deeskalationspotentialen verwendeter Narrative in der Erzählung über Krieg und Konflikt, steigt die Gefahr von nicht intendierten Nebenfolgen, die Ausgrenzungen, Verletzungen oder weitere Gewaltformen fördern.

Beispielsweise fühlten sich Menschen in Griechenland und auf dem Balkan durch die Verwendung des Narratives, der Angriffskrieg habe den seit 75 Jahre währenden Frieden in Europa beendet, in ihren Kriegserfahrungen ausgeklammert. Auf dem Balkan wurde das Narrativ vom ersten (Angriffs-)Krieg in Europa seit dem zweiten Weltkrieg mit Wut, Unglauben und Schmerz aufgefasst, da durch das Ausklammern beispielsweise des Kroatienkriegs (1991-1995), des Bosnienkriegs (1992-1995) oder des Kosovokriegs (1998-1999) diese als Zeiten des Friedens in Europa interpretiert wurden oder gänzlich in Vergessenheit geraten schienen.

Die Verwendung des Narrativs „75 Jahre keinen Krieg in Europa“ kann somit eine exkludierende Wirkung entfalten, bei der entweder die Kriegsgebiete nicht „wirklich“ als Europa zugehörig gesehen oder nur bestimmte Kampfhandlungen als „Krieg“ gewertet werden. Es könnte zudem als Ausdruck einer hegemonialen Erinnerungskultur gewertet werden, in der die Kriegsgeschehnisse im ehemaligen Jugoslawien eine untergeordnete Position zugewiesen werden.

Dieses Narrativ wurde nicht nur von Politiker*innen verwendet und in Medien reproduziert, sondern tauchte auch in Reden auf Kundgebungen und Demonstrationen auf. Durch das Wechselspiel von Narrativen, Handlungen und Haltungen tragen Menschen, die in dem jetzigen diskursiven Aushandlungsprozess eine größere Reichweite erzielen, auch eine größere Verantwortung dafür, Narrative hinsichtlich ihrer Bedeutung und dahinterliegender Macht- und Interessensstrukturen zu reflektieren. Um weiteres konfliktschürendes Verhalten zu vermeiden, sollten keine Narrative, die exkludierend wirken können, unhinterfragt in eigene Reden, Stellungnahmen oder Dialoge übernommen werden. Denn die Bedeutung eines spezifischen Diskurses und dessen Inhalt wird durch wiederkehrende Artikulation festgelegt, was dezidiert auch Redner*innen auf Protestbewegungen und Kundgebungen, die vor hunderten oder tausenden Menschen sprechen, mit einschließt. Hier sollte die Chance ergriffen werden, den Diskurs durch inkludierende Narrative friedensfördernd zu verändern, indem wir exkludierende Narrative nicht in unseren Sprachgebrauch übernehmen.

Weil Reden, Artikel und Diskussionssendungen den öffentlichen Diskurs beeinflussen, braucht es Akteur*innen, die inklusive und friedensfördernde Narrative weitertragen und am wichtigsten, eine friedensfördernde Logik des Denkens und Sprechens. Daher sollten wir auch in diesem Konflikt reflektieren, welche Haltung wir zu den Entwicklungen einnehmen und welche Narrative wir weitertragen. Insbesondere muss nun, da die Sanktionen gegen Russland in Kraft sind und die Isolation des Landes deutlich geworden ist, eine Erzählung Raum bekommen, unter welchen Umständen Frieden denkbar wäre und welche Schritte zu Deeskalation und Gewaltreduzierung beitragen können. Friedensfördernde Narrative verhindern dabei keine Rhetorik, die den Ernst der Lage deutlich machen soll. Denn wir leben in einer bedrückenden Zeit. Es gibt wieder Krieg in Europa. Noch mehr Vertriebene suchen in Europa Zuflucht und wir sollten allen helfen, die durch Mächte jenseits der eigenen Kontrolle vertrieben wurden und in Not geraten sind.

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