Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wir müssen den Krieg vom Frieden her denken

von Cora Bieß und Dr. Marcel Vondermaßen

10.03.2022 · Gegenwärtig ringen gerade mindestens zwei Erzählungen vom Krieg in der Ukraine um die Vorherrschaft: Einerseits gibt es die ukrainische Sichtweise, der sich große Teile der Weltöffentlichkeit angeschlossen haben, die in dem Krieg einen ungerechtfertigten Angriffskrieg Putins sehen. Andererseits die russische Version, die von einer begrenzten Militäroperation zum Schutz für bedrohte Menschen, insbesondere im Osten der Ukraine, spricht. „,Spezialoperation´ – so nennt das offizielle Russland den Krieg in der Ukraine. Wer anders berichtet, wird zensiert“, schreibt der russische Lyriker und frühere Dissident Lew Rubinstein bei der Radiostation Echo Moskwy, die inzwischen abgeschaltet wurde“[1].  Lew Rubinstein sieht darin einen „Krieg der Sprache“, der seiner Auffassung nach schon vor dem Angriffskrieg begonnen habe. Doch wie wirkt sich ein Denken in einer Friedenslogik auf Sprache aus?

Auch wenn gegenwärtig keine Kooperation möglich erscheint, ist friedenslogische Kommunikation dennoch wichtig. In einer Friedenslogik (Lammers 2020) zu denken bedeutet, die aktuellen Entwicklungen als Gewalt, die stattfindet oder bevorsteht, zu betrachten. Diese Gewalt wird nicht in einer Freund/Feind*in-Dichotomie gedacht, sondern ist eine Folge komplexer Konflikte, die auch die Reflexion eigener Konfliktanteile einbezieht. Dies gilt heute umso mehr, da Kriegssituationen  komplexe Analysen erschweren, wie Werner Wintersteiner betont: „Jeder Konflikt, der eskaliert - und ein Krieg erst recht -, führt dazu, dass komplexes Denken zugunsten von Vereinfachungen sowie klaren Freund-/Feind-Bildern aufgegeben wird. Demgegenüber müssen wir darauf beharren, die gesamte Geschichte und Dynamik dieses Konflikts zu beleuchten, was häufig bedeutet, nicht auf ein "entweder/oder", sondern auf ein "sowohl/als auch" zu setzen.“ (Winterstein, 25.02.2022)

Aus der Perspektive der Friedenslogik kann Konfliktbearbeitung nur kooperativ erfolgen. Der Fokus der gegenwärtigen Kriegssituation liegt aus friedenslogischer Sicht folglich darin, mögliche Schritte zu Deeskalation prozessorientiert und dialogorientiert zu denken, um weitere Eskalationsstufen zu verhindern. Die Rechtfertigung des eigenen Handelns und dahinterliegenden Haltungen orientieren sich dabei an der Universalität aller Menschen und unter Berücksichtigung des Völkerrechts, mit dem Ziel, das Leid aller Betroffenen des Kriegs zu reduzieren. Das schließt auch die werteorientierte Hinterfragung eigener Interessen und Annahmen mit ein. Dies impliziert eine offene, kritische Reflexion und eine Fehlerkultur, die Verantwortliche auf ein Scheitern nicht reflexartig mit einer Erhöhung von Sicherheitsmaßnahmen reagieren lässt.

Ebenso impliziert das eine Öffentlichkeit, die Scheitern von Verantwortlichen als Teil eines komplexen Prozesses begreift (vgl. Plattform Zivile Konflikt Bearbeitung/ AG Friedenslogik 2022: 1) und anerkennt, dass Menschen in Verantwortung weitreichende Entscheidungen unter enormen Druck fällen müssen, weshalb umfassende Konkfliktanalysen und Folgenabschätzungen auch unter einer enormen Beschleunigung stattfinden. Dennoch ist es wichtig, dass Maßnahmen für eine weitere Konfliktdeeskalation nicht nur auf die Täter*innen und Opfer von physischer Gewalt beschränkt sind. Die Verantwortlichen müssen Fehler in der eigenen Risikoanalyse und der eigenen Risikobewertung benennen (dürfen), die Zwänge und Bedürfnisse der Gegenseite im Blick behalten, auf aktuelle Ereignisse reagieren können und müssen zukünftige Gewaltpotenziale im Blick behalten. Dies beinhaltet auch, dass neben Akteur*innen der Gewalt, gewaltsame oder gewaltfördernde und friedensfördernde Strukturen in diesen Überlegungen differenziert betrachtet werden.

Friedenlogisches Denken verhindert nicht, einen Angriffskrieg zu verurteilen. Es weist jedoch darauf hin, dass keine monolithischen Blöcke von Opfern auf der einen, und Täter*innen auf der anderen Seite existieren, sondern fordert dazu auf, auch im Krieg differenziert und komplex zu denken. Dies schließt auch eine kritische Reflexion mit ein, inwiefern durch das eigene Handeln oder das Handeln Verbündeter gewalt- und eskalationsfördernde Verstrickungen entstehen. Dies erfordert gleichzeitig etwaige Völkerrechtsbrüche als solche zu benennen und Maßnahmen zu ergreifen, diese in Zukunft wirkungsvoll zu verhindern. Dies darf jedoch nicht auf eine Weise geschehen, die den Korridor für deeskalierende und gewaltreduzierende Gespräche dauerhaft verschließt.

So ist es zum Beispiel problematisch zu sehen, wenn nun verschiedenste Akteur*innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verbindungen nach Russland zu kappen. Hier wäre eine stärkere Differenzierung nötig, die Verbindungen zur Zivilgesellschaft stärkt statt schwächt und Sanktionen auf jene Firmen oder Personen beschränkt, die das Regime unterstützen, finanzieren oder repräsentieren. Richtigerweise wurde der künstlerische und wissenschaftliche Austausch und die Kooperation unter Nichtregierungsorganisationen bisher als friedensfördernd eingestuft.

Natürlich führt eine Veränderung im Denken kein plötzliches Ende der Bombardierung herbei. Doch Kriege sind keine stetigen Abläufe, daher müssen in jeder Phase Möglichkeiten zu Verhandlungen und Dialog mitgedacht werden. Denn ob sich die Möglichkeit zur Verhandlung öffnet, basiert auch auf der Kommunikation davor: Enthalten zum Beispiel öffentliche Reden von Politiker*innen neben Sanktionen und Signalen der Ge- und Entschlossenheit auch Zeichen für die Deeskalation des Konfliktes? Ziel muss es sein, in keinem Stadium die Auswirkungen für Betroffene des Krieges aus dem Blick zu verlieren, sondern stattdessen um Deeskalation zu ringen. Auch wenn es zu Verhandlungen kommt, ist die friedenlogische Perspektive entscheidend: Werden erlittenes Leid und die Sorgen auch der Gegenseite mitbeachtet? Werden universelle Rechte für alle Beteiligten eingeräumt und gewahrt? Sind die eigenen Forderungen Folge einer komplexen Konfliktanalyse, die Konfliktdimensionen auf unterschiedlichen Ebenen aller Beteiligten umfasst? Berücksichtigen die eigenen Vorstellungen für eine möglichst umfassende Gewaltreduzierung auch Deeskalationspotentiale der eigenen Seite? Haben die Forderungen auch strukturelle Komponenten von Gewalt im Blick, wie Rassismus oder Sexismus?

Auch wenn gegenwärtig keine Kooperation möglich erscheint, ist friedenslogische Kommunikation dennoch wichtig. Denn selbst angesichts der erschreckenden Bilder, darf nicht vergessen werden, dass auch eine weitere Eskalation des Konflikts denkbar ist, ja sogar an prominenter Stelle gefordert wird. Werden Russland oder „die Russen“ in ihrer Gesamtheit als Feindbild dargestellt und allein auf weitere Verschärfungen der Sanktionen und Militärhilfen gesetzt, wird die Gewalt noch zunehmen, und weitere Schritte der Eskalation werden wahrscheinlicher.

Es ist nachvollziehbar, dass der Angriffskrieg auf die Ukraine Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit auslöst. Dies darf nicht dazu führen in ein Denken einer Sicherheitslogik zu verfallen, die Gewaltreduzierung und Frieden unwahrscheinlicher oder sogar unmöglich machen. Um den Krieg zu beenden, müssen wir ihn vom Frieden her denken.

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Quellen:

Fischer, Astrid/ Morina, Engejellushe (Hg.) (2019): Preventing Violence. Unter Mitarbeit von Berghof Foundation. Berlin (Berghof Glossary on Conflict Transformation and Peacebuilding. 20 essays on theory and practice).

Lammers, Christiane (2020): Das Projekt „Friedenslogik“ im Kontext der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. In: Wissenschaft und Frieden. S+F (38. Jg.) 3/2020

Graf, Wilfried/Jaberg, Sabine/ Lammers, Christiane/Mangold, Jochen/ Angela

Mickley/Roggenbuck, Beate (17.02.2022):  Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt. Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Online verfügbar unter: pzkb.de/fuer-konsequent-friedenslogisches-handeln-im-ukraine-konflikt/

Wintersteiner, Werner (25.02.2022): „Frieden ist die einzige Option Acht Punkte zum Angriff auf die Ukraine aus friedenspolitischer Sicht“. Online verfügbar unter: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2139002-Frieden-ist-die-einzige-Option.html

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/228508

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[1] Original 25.02.2022 von Lew Rubinstein — Übersetzung 01.03.2022 von dekoder-Redaktion; online verfübgar unter: https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-krieg-der-sprache-in-russland, zuletzt geprüft am 04.03.2022. Dekoder bringt russischen und belarussischen Journalismus sowie  Stimmen aus der Wissenschaft von europäischen Universitäten auf eine gemeinsame Plattform.