Am 25. Juni 2020 jährt sich der 200. Geburtstag von Ludwig Binswanger sen., Arzt und Gründer der psychiatrischen Privatklinik „Bellevue“ im schweizerischen Kreuzlingen nahe Konstanz. Das Universitätsarchiv Tübingen verwahrt die Verwaltungs- und Krankenakten der Klinik, den Nachlass des Psychiaters Ludwig Binswanger jun. und die Akten des „Familienarchivs Binswanger“, die eine Fundgrube nicht nur für die Medizin- und Psychiatriegeschichte, sondern auch für das europäische Geistesleben des 19. und 20. Jahrhunderts sind.
Zum einen gibt das Tübinger „Binswanger-Archiv“ Aufschluss über Ludwig Binswangers sen. ärztlich-wissenschaftliche Tätigkeit und öffentliches Engagement. Zum anderen lässt es ihn auch als einen geselligen Menschen mit dramaturgischem Talent entdecken. Aus seiner Feder stammte unter anderem das dramatische Gedicht „Die Mücken“, das im Mai 1873 von der Ärztegesellschaft „Münsterlingia“, deren Mitglied Binswanger war, auf der Insel Reichenau unter dem Titel „Die Heilung der Melancholeia“ aufgeführt wurde.
Als Vorlage für sein Bühnenstück diente Binswanger der „Bericht von den Mücken“ des deutschen Dichters Viktor von Scheffel (1826-1886), der 1863 in dessen Werk „Frau Aventiure“ erschienen war. Im Prolog schrieb Binswanger, Scheffel sei „der Ärzte Meister“, er allein habe „die richtige Heilung von dem schlimmsten aller Seelenleiden“ erfunden, welches den Menschengeist „umstricket“ hielt, der Lateiner nenne es: Melancholeia.
Das Theaterstück handelt vom Mönch Nicodemus, der lange Zeit unter „Schwermut“ und „Menschenscheu“ litt und dessen Sinn sich eines Tages zum Besseren dank der „Mücken“ wendete. Die Antwort auf die mögliche Frage, weshalb Nicodemus „den Mücken“ seine Heilung verdanke, wird an dieser Stelle jedoch nicht verraten und findet sich sowohl im poetischen „Bericht“ Scheffels als auch im dramatischen Gedicht Binswangers.
Die Fotomontage eines Konstanzer Photographen zeigt die kostümierten Mitglieder der Münsterlingia als Darsteller und oben im Frack den Autor Ludwig Binswanger. Im Zentrum wird die Schlussszene seines Bühnenstücks mit der Heilung des Klosterbruders Nicodemus dargestellt. Ihm wurde vom Abt und Prior ein Steinkrug mit Wein gereicht: „Fröhlich Herz bezwingt den größten Drachen, traurig Herz erliegt im Mückenkampfe, Nicodeme, trink den Steinkrug aus!“
Ludwig Binswanger wurde am 25. Juni 1820 im bayerischen Osterberg als einer der insgesamt neun Söhne eines jüdischen Kleinhändlers geboren. Nach Privatunterricht und Besuch des St. Stephan-Gymnasiums in Augsburg bestand er das Abitur mit Auszeichnung. Ab 1840 studierte er Philosophie in Erlangen und ab 1841 Medizin in Heidelberg und München, wo er 1845 mit einer preisgekrönten Arbeit „Pharmakologische Würdigung der Borsäure, des Borax und anderer borsaurer Verbindungen in ihrer Einwirkung auf den gesunden und kranken thierischen Organismus“ zum Dr. med. promoviert wurde. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft blieb ihm der Eintritt in den bayerischen Staatsdienst verwehrt.
Nach der Promotion absolvierte Binswanger ein zweijähriges Medizinalpraktikum am Augsburger Krankenhaus, wo er auch die psychiatrische Arbeit kennenlernte. Im Jahr 1846 begann er an der Zeitschrift „Archiv für physiologische Heilkunde“ mitzuarbeiten, die von Wilhelm Griesinger (später von Karl Vierordt), unter Mitwirkung von Wilhelm Roser und Karl Wunderlich in Tübingen herausgegeben wurde. Von 1848 bis 1849 war Binswanger als Assistenzarzt und Privatdozent an der Medizinischen Klinik in Tübingen unter Wunderlichs Leitung tätig. Im Juli 1848 heiratete er Jeanette Landauer, Tochter eines jüdischen Antiquitätenhändlers aus Hürben.
In Tübingen schloss sich Ludwig Binswanger dem Vaterländischen Verein an, der ein Vertreter des liberalen Flügels der 1848er Bewegung war. Während der Märzunruhen trat Binswanger bei öffentlichen Kundgebungen in München für die Emanzipation der Juden ein.
Auf Empfehlung Griesingers bewarb sich Binswanger 1850 erfolgreich um die an der schweizerischen „Irrenanstalt“ Münsterlingen ausgeschriebene Direktorenstelle, die er bis zur Gründung seiner Privatklinik „Bellevue“ bekleidete. In der Schweiz ließ Binswanger seine Kinder taufen. Auch er selbst und seine Frau traten zum evangelischen Glauben über.
Im Jahr 1857 erwarb Binswanger das Gelände der berühmten vormärzlichen Druck- und Verlagsanstalt Bellevue in Kreuzlingen bei Konstanz und errichtete dort eine „Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes“. In der Klinik weilte vor allem eine vermögende Klientel. Nichtsdestotrotz verstand Binswanger seine Anstalt als „Asyl“ beziehungsweise als Zufluchtsstätte für Hilfsbedürftige. Sein Therapiekonzept beruhte auf einem engen Gemeinschaftsleben zwischen den Kranken und der Familie des Arztes. Im Anstaltsalltag spielten unter anderem gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge und Feste eine große Rolle. Neben der ärztlichen Tätigkeit engagierte sich Binswanger in Vereinen und in seiner neuen Heimatgemeinde. Er starb am 6. August 1880 in Kreuzlingen.
Die Leitung der „Bellevue“ übernahm Binswangers ältester Sohn Robert Binswanger (1850-1910), danach der Enkel Ludwig Binswanger jun. (1881-1966) und schließlich der Urenkel Wolfgang Binswanger (1914-1993). Im Jahr 1980 wurde die Klinik aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten geschlossen.
Binswanger, Ludwig: „Die Mücken“. Manuskript, 17. Mai 1873. UAT 443a/98.
Scheffel, Joseph Victor von: „Bericht von den Mücken“. In: ders., Frau Aventiure. Lieder aus Heinrich von Ofterdingens Zeit. Stuttgart 1863.
Benzenhöfer, Udo [u.a.] (Hrsg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990.
Hirschmüller, Albrecht; Moses, Annett (Hrsg.): Psychiatrie in Binswangers Klinik „Bellevue“. Diagnostik - Therapie - Arzt-Patient-Beziehung. Vorträge einer Internationalen Tagung, Tübingen, 4.-5. Oktober 2002. Tübingen 2002.
Kappeler, Otto: Zur Erinnerung an Dr. Ludwig Binswanger. Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte, Jg. 10 (1880), S. 694-698.
Moses, Annett; Hirschmüller, Albrecht: Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen: das „Asyl“ unter Ludwig Binswanger sen. 1857-1880. Frankfurt a.M. [u.a.] 2004.
Wischnath, Johannes Michael (Hrsg.): Beglücktes Haus, gesegneter Beruf: die Binswangersche Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen im Spiegel des Tübinger Binswanger-Archivs; eine Ausstellung des Universitätsarchivs Tübingen. Tübingen 2003
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