08.05.2020
Neue DFG-Forschungsgruppe in Tübingen
„Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965-1989/90“
Es ist der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen eine ganz außerordentliche Freude, mitteilen zu können, dass die DFG mit Schreiben ab dem 28. April 2020 die Forschungsgruppe FOR 2973/1
„Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965-1989/90“
bewilligt hat.
Mit einem Gesamt-Finanzvolumen von knapp 3 Mio. € für die kommenden drei Jahre ist das Forschungsvorhaben gut ausgestattet, um große Schritte in der Zeitgeschichtsforschung zu gehen.
Das Projekt ist ein Unternehmen der Kommission für Zeitgeschichte (Bonn). Prof. Andreas Holzem wird als Sprecher mit der dortigen Geschäftsstelle eng zusammenarbeiten. Beteiligt sind insgesamt zehn universitäre Einrichtungen. Das Bewilligungsvolumen für Tübingen beläuft sich auf gut 600.000 €.
Prof. Holzem stellt das Projekt im Folgenden kurz vor:
Inhalte und Ziele
Die Kommission für Zeitgeschichte ist bekannt für Katholizismusforschung. Wenn wir als deren Mitglieder nun eine DFG-Forschungsgruppe starten, wollen wir dezidiert etwas Anderes machen als die kirchengebundene, sozial formierte und gesellschaftspolitisch nach außen wirksame Gruppe der Katholiken zu erforschen. Ein grundlegender Paradigmenwechsel steht an: Es ist der Wandel
(1) unseres Forschungsgegenstandes, und
(2) unserer Fragestellung, die uns dazu veranlassen.
(1) Der Gegenstand: 1950 sind 50% der Katholiken regelmäßige Kirchgänger, 2018 sind es unter 10%. Die Anzahl der Katholikinnen und Katholiken – um die 25 Mio. – hat sich jedoch kaum verändert. Zunächst in einem Zeitraum zwischen 1965 und 1989/90 will „Katholischsein“ Prozesse der Öffnung fassen: plurale Wandlungsdynamiken und erweiterte Räume zivilgesellschaftlicher und politischer Vernetzung. Im Englischen wäre „Katholischsein“ nicht „being catholic“, sondern „doing catholicisms“ – im Plural. Was sind die vielen Formen des „Katholischseins“, wenn sie nicht mehr als organisierte Kirchlichkeit stattfinden? In welcher Weise sind diejenigen, die nicht mehr zur Kirche, aber zu den Grünen gehen, auf ihre Art katholisch? „Katholischsein“ als Forschungsgegenstand rechnet nicht mehr mit einem soziopolitischen und religionskulturellen Milieu, das sich vom Rest der Gesellschaft signifikant unterscheiden will.
(2) Die Fragestellung: Die zentristische Kirche und ihre sinnbildenden Deutungen wandelten sich durch das II. Vatikanische Konzil grundlegend. Dessen Rezeption konzipierte den Zusammenhang von Religion und Gesellschaft völlig neu. Religion verschwindet nicht. Vielmehr verändert sich der soziale Ort, an dem sie sich ereignet und in diesem Prozess mithin die Semantiken, die Praktiken und die Emotionen des Religiösen. Diesen Wandel zu analysieren, fordert einen Wandel des Forschungsparadigmas – nicht mehr Zeitgeschichte eines konfessionellen Milieus, sondern Religion eingeschrieben in die zeitgeschichtliche Veränderungsdynamik. Welchen spezifischen Beitrag – das ist unsere neue Fragestellung – leistete das „Katholischsein“ zur Sozialgestalt der Bundesrepublik seit den 1960er/70er Jahren?
Der Begriff „Katholischsein“ argumentiert nicht essentialistisch; er fungiert für uns als Prozess- und Arbeitsbegriff: Er fasst unsere erste zentrale These:
These 1 „Aus der Sozialform des katholischen Milieus gehen diversifizierte Gestaltungen des Katholischseins hervor. Diese prägen Gesellschaft und Kultur der Bonner Republik neu und erheblich mit.“
Der Begriff „Katholischsein“ will drei relevante Entwicklungen erfassen:
(1) Die Gläubigen subjektivieren ihre Glaubensüberzeugungen und moralischen Standards rasch und dauerhaft; dadurch wandeln sich die Ursprünge und Bezüge religiöser Autorität: weg vom fraglosen Gehorsam gegenüber der Hierarchie von Papst und Bischöfen, hin zu den Thesen jener Theologen und Pastoralpsychologen, die man als innovativ diskutiert. Diese Entwicklung bearbeitet der Projektbereich A „Theologietreiben als soziale Praxis“.
(2) Dadurch werden religiöser und sozialer Sinn auf neue Weise gebildet; neue Gruppen und Rollen entstehen, die religiöses Handeln wesentlich als gesellschaftliches Handeln verstehen. Dies begründet den Projektbereich B „Rollen und Rituale“.
(3) Katholische Akteure vernetzen sich mit anderen politischen und sozialen Gruppen, um zukunfts- und gemeinwohlorientiert an zivilgesellschaftlichen Problemlagen zu arbeiten. Dies thematisiert Projektbereich C „Zivilgesellschaft und Politik“.
Kurz: Wir wollen die Religion in der Gesellschaft analysieren – das ist wichtiger, als die Religion in Gestalt einer verfassten Kirche zu betrachten.
„Katholischsein“ als Forschungsdesign operationalisiert unsere zweite zentrale These:
These 2: „Katholischsein ist divers. Es lässt sich – gegen alte Meistererzählungen – keineswegs allein als ‚Erosion‘ oder ‚Säkularisierung‘ fassen. Vielmehr betrachten wir diese Prozesse als auf eine spezifische Weise ‚erfolgreich‘, sprich effektiv: Katholiken erfuhren religiöse Identitäten und Praktiken als in neuer Weise plausibel; dadurch förderten Katholiken gleichzeitig die Dynamik gesellschaftlicher Aushandlung und Entwicklung.“
Darum richten wir unsere Forschungen auf drei Analyseebenen, die wir – vereinfachend – binär abbilden:
(1) Semantiken: „Opfer“ ist um 1955/60 in einem Kapellenwagen für Diasporachristen ganz anders konnotiert als auf dem Höhepunkt der Biafra-Katastrophe 1966/70. Die Sprache – neben Institutionen und Traditionen – liefert die soziokulturellen frames jeder subjektiv erfahrenen Wirklichkeit. Die religiös-soziale Dynamik von Katholischsein erfordert also eine kulturell sensible Begriffsgeschichte.
(2) Praktiken: Fronleichnamsprozession und Andachtsbuch geraten nach dem II. Vatikanum als frömmelnde Praxis in die Kritik. Aber im Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss sind Christen und Christinnen hoch aktiv. Evident ist: Alltagsrituale und Vergesellschaftungen des Milieus organisierten stets von Neuem ein Sonderbewusstsein. Praktiken des Untersuchungszeitraums hingegen etablierten neue Berührungsflächen, auch mit ehemaligen weltanschaulichen Gegnern.
(3) Emotionen: Liturgisches Erleben, Schamkultur, Passionsfrömmigkeit und politischer Aktivismus – alles „Katholischsein“ stellt emotionale Erlebnisgemeinschaften her. Deren Kohärenz unterliegt einem lebensweltlichen framing durch Erinnerungen, Bewegungen, Räume und Objekte. Wir wollen wissen, wie der dramatische Wandel solcher Emotionsregimes auch in neuen Zuschreibungen an Geschlechterrollen und -bilder kommunikativ wie medial mobilisiert und reguliert wurde.
Die Projektbereiche und Projekte
Projektbereich A: Theologie als soziale Praxis
A.1 „Aufbruch“ oder „Zusammenbruch“? Die katholische Theologie und die Studentenbewegung von 1968 (Hubert Wolf, Münster)
A.2 „Nur der Wissende ist in der Lage, richtige Entscheidungen zu fällen …“. Theologie und Zivilgesellschaft im Spiegel von Rezension und Buchempfehlung (Joachim Schmiedl, Vallendar)
A.3 „… dass die Bereitschaft, dem Geist einer neuen Zeit gerecht zu werden, nicht den tragenden Grund der abendländischen Kultur zersplittern und aufweichen darf …“. Pastorale Praxis zwischen vorkonziliarer Modernität und nachkonziliarem Konservativismus (Burkard, Dominik – Würzburg)
Projektbereich B: Rollen und Rituale
B.1 Amtsverständnisse, Berufsbilder und Geschlechterrollen (Kooperationsprojekt I)
B.1.1 „Das mütterlich starke Empfinden geht durch wirklich erworbenes Bildungsgut nicht verloren.“ Akademisierung und Professionalisierung von Frauen (Nicole Priesching, Paderborn)
B.1.2 Abschied von ‚Hochwürden‘. Die Priesterkrise nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Thomas Großbölting/Klaus Große Kracht, Münster)
B.2 Gesellschaftskritik im religiösen Ritual (Kooperationsprojekt II)
B.2.1 „Eine unzumutbare Gewissensverwirrung“. Die sozialen und emotionalen Folgen von Humanae Vitae: Protestrituale, sakramentale Erfahrungen und Körperpraktiken (Birgit Aschmann, Berlin)
B.2.2 „Das könnte den Herren der Welt ja so passen …“. Sacro-Pop als Gesellschafts- und Kirchenkritik junger Katholik*innen (Andreas Holzem, Tübingen)
Projektbereich C „Zivilgesellschaft und Politik“
C.1 Das „Tischtuch zwischen Katholiken und den Grünen [ist] zerschnitten.“ Katholischsein in den 1970er und 1980er Jahren: Mit den Grünen oder gegen die Grünen? (Wim Damberg/Florian Bock, Bochum)
C.2 „Das Schulkind von heute ist der Gemeinde- und Staatsbürger von morgen“. Schulpolitische Umbrüche und Katholischsein in Rheinland-Pfalz in den ausgehenden 1960er und frühen 1970er Jahren (Michael Kissener/Frank Kleinehagenbrock/Christoph Kösters, Mainz/Bonn)
C.3 „Tobei – Gott sieht deine Schweinerei!“ Katholischsein in West-Berlin zwischen Mauerbau und Mauerfall am Beispiel der Pfarrei St. Matthias-Schöneberg (Thomas Brechenmacher, Potsdam)
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