Die Rolle der Universität

Allgemein

Deutsche Universitäten zu Kolonialzeiten: „Wenn Universitäten im Kaiserreich ihren gelehrten Blick über Europas Grenzen hinausrichteten, dann war dieser meist kolonial geprägt“ (Gräbel 2021: 501). Diesem Leitbild folgend, vereinte auch die sich selbst als „Kleinstadtuniversität“ bezeichnende Universität Tübingen (Gräbel 2021: 501) eine Reihe renommierter Kolonial- und Auslandsexperten in ihrem Lehrkorpus:

  • Geographen: Alfred Hettner, Kurt Hassert, Karl Sapper, Carl Uhlig, Hermann von Wissmann
  • Völkerkundler: Augustin Krämer
  • Historiker: Johann Schäfer. Karl Jacob, Adalbert Wahl, Johannes Haller
  • Juristen: Ferdinand von Martitz, August Hegler, Kurt Borries
  • Ökonomen: Carl Johannes Fuchs, Bernhard Harms, Eduard Haber, Wahrhold Drascher
  • Sprachwissenschaftler und Orientalist: Enno Littmann
  • (Tropen-)Mediziner: Gottlieb Olpp, Otto Fischer

Dass Universitäten sich als zentrale Wissensinstitutionen des 19. und 20. Jahrhunderts mit Kolonien und Kolonialforschung befassten, kann zu einem Teil dem zeithistorischen Kontext zugeschrieben werden, zum anderen boten Kolonien den neuformierenden empirischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts auch „neue Untersuchungs- und Experimentierfelder“ (Osterhammel/Jansen 2017: 117). Zudem erhielten die sich in kurzer Zeit spezialisierenden Wissenschaften – wie Ethnologie, Anthropologie, Kolonialgeographie, Kolonialrecht oder Tropenmedizin (ebd.) – im Zuge der Vorstellung eine „westliche Zivilisierungsmission“ zu sein, welche „Fortschritt und Moderne in die weniger entwickelten Weltgegenden“ bringt, eine weitreichende „Legitimationsgrundlage“ (Eming/Nagel 2009: 3).

Obgleich die daraus resultierende Forschung für sich selbst den Anspruch hervorhob normativ zu sein, begann mit der zunehmenden Kolonialexpansion das „Zeitalter der praxisorientierten Forschung“ (Eming/Nagel 2009: 3), in welchem die neuen Erkenntnisse Einzug „in die Praxis kolonialer Eroberung und Herrschaft“ (Osterhammel/Jansen 2017: 117) fanden und dem Ziel dienten, maximalen Nutzen aus den Kolonien zu ziehen (Eming/Nagel 2009: 3). Das durch Universitäten generierte handlungsleitende Wissen war folglich „für Herrschaftspolitik und rechtliche Arrangements, Grenzziehungen und Siedlungsformen konstitutiv“ (Osterhammel/Jansen 2017: 117f.). Dennoch wäre es falsch, die gesamte koloniale Wissenschaft unter Generalverdacht zu stellen. Gerade die deutsche Völkerkunde, „die um 1900 in ganz Europa als vorbildlich galt“ und in einer „liberalen, humanistischen Tradition“ stand, ließ „Raum für Rassismus- und Kolonialismuskritik“ (Osterhammel/Jansen 2017: 120).

Ausdifferenzierung der „kolonialen Wissenschaften“ an der Universität Tübingen:
Die bereits erwähnte koloniale Spezialisierung der empirischen Wissenschaften lässt sich auch in Tübingen beobachten. Eine Längsschnittbetrachtung der Vorlesungsangebote der Tübinger Universität im Abstand von zehn Jahren zeigt anschaulich, wie die Themen Kolonien und Kolonialismus, von einer anfänglich ausschließlich geschichtswissenschaftlichen Betrachtung, über einen geographisch-landeskundlichen und völkerkundlichen Forschungszweig, schließlich ab 1930 Einzug in Medizin, Staatswissenschaft und – mitgeprägt durch den Nationalsozialismus – Rassenkunde erfuhr.

Tübinger Rektoren mit (in-)direktem Kolonialbezug
Nicht nur universitäre Wissenschaftler und Lehrende waren über deren Forschungsgebiet in den Kolonialismus verstrickt, sondern auch die Universität als Institution selbst strukturell über die Besetzung ihres Rektors. Da die dieses Amt verkörpernde Person mit der öffentlichen Repräsentation sowie der Lehrorganisation und Personalentwicklung betraut ist und im Untersuchungszeitraum jährlich vom universitären Lehrkorpus gewählt wurde, spiegelt die Wahl des universitären Vorstands die damalige Geisteshaltung des Forschungskollegiums wider. Unter den ehemaligen Rektoren weisen einige eine (in-)direkte Kolonialvergangenheit vor. Inwieweit diese Rektoren ihre institutionelle Macht für eine Stärkung der Kolonialwissenschaft (aus-)genutzt haben, bleibt ungeklärt. Am Beispiel des 1928 als Rektor für die Universität Tübingen tätigen August Hegler wird jedoch deutlich, dass diese gelegentlich auch genutzt wurde. Während der Stuttgarter Kolonialwoche betonte er in seiner Rede die „Rolle der Tübinger Wissenschaft als eine geistige Helferin an der kolonialen Arbeit“ und beendete seine Rede mit seinem Wunsch, dass „der koloniale Gedanke, der Gedanke eines größeren Deutschlands, sich tief in den Herzen der Jugend eingraben möge“ (Gräbel 2020). In der Folge dieser Veranstaltung erhielt die Kolonialbewegung in Tübingen erneut Zulauf und die „kolonialrevisionistische Rhetorik wurde zunehmend aggressiver“ (Gräbel 2020).

Koloniale Rolle der Universität Tübingen im Nationalsozialismus
Obwohl Deutschland bereits im Jahre 1918 seine Kolonien verlor und somit die reale Kolonialgeschichte endete, war dies erst der Auftakt weitreichender „Projektions- und Phantasiegeschichte(n)“ (Linne 2006: 91), welche sich vor allem nach der Machtergreifung Hitlers erneut öffentlich äußerten – „there were colonial ambitions at nearly every German university“ (Linne 2003: 275). Auch die Universität Tübingen – welche „gegen die Machtergreifung“ und die anschließende „Gleichschaltung sowohl bei den Studierenden wie bei den Professoren keinen Widerstand“ (Binder 2002: 105) leistete und durch neu erlassene Gesetze die Möglichkeit hatte, freiwerdende Stellen nach „weltanschaulichen Kriterien zu besetzen“ oder Lehrstühle in „ideologische Fächer umzuwandeln“ (Decker-Hauff/Setzler 1977: 281) – weist zwischen 1933 und 1945 eine beachtliche Bilanz institutioneller Um- und Ausbautätigkeiten auf, wovon die elf neu geschaffenen Lehrstühle (Daniels/Michl 2010: 19) die offensichtlichsten Neuerungen darstellen: Lehrstuhl für deutsche Volkskunde, Lehrstuhl für Rassenkunde, Lehrstuhl für weltpolitische Auslandskunde und Kolonialpolitik, Auflösung des Orientalischen und Errichtung des Arischen Seminars,Lehrstuhl für Völkerkunde, Lehrstuhl für Tropenmedizin. Es wird ersichtlich, dass die direkt nach der Machtergreifung einsetzende Gleichschaltungspolitik nachdrücklich jene Wissenschaftszweige förderte, denen „eine besondere Nähe und Anschlussfähigkeit zu zentralen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie zugeschrieben wurde“ (Daniels/- Michl 2010: 21). Die im Laufe des Krieges propagandierten wissenschaftlichen Expansionsphantasien, welche auf der Aussicht basierten, Deutschland würde sich machtpolitisch neu positionieren (Daniels/Michl 2010: 68f.), wurden nicht nur von kolonialrevisionistischen Wissenschaftlern geteilt, sondern bildeten auch das Resultat weitreichender „geheime[r] Kolonialplanungen des NS-Regimes“ (Linne 2003: 275). Erst Im Zuge der anbahnenden Kriegsniederlage nahmen ab 1943 die regen Tätigkeiten in den einzelnen Fachgremien erneut ab, wodurch „die kurze Blüte der NS-Kolonialwissenschaft“ (Linne 2003: 281) endete.

Literatur

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