Perzeption innerhalb der Tübinger Gesellschaft

Tübinger Kolonialgesellschaft

1887 wurde ein lokale Zweigverein der deutschen Kolonialgesellschaft in Tübingen gegründet. Die Mitglieder waren aus dem gehobener Mittelstand sowie die lokale Wissenselite. Neben weiteren Universitätsprofessoren war auch Prof. Uhlig ab 1914 ihr Vorsitzender. Die Hauptfunktionen der deutschen Kolonialgesellschaft war die Verbreitung eines positiven kolonialistischen Gedankengutes, die Pflege des Zugehörigkeitsgefühl von im Ausland lebenden Deutschen zum Mutterland, die Vereinigung verschiedener Parteien und Bevölkerungsteile hinter einer expansiven Kolonialpolitik, doe Förderung der wissenschaftlichen Erforschung und wirtschaftliche Nutzung der Kolonialgebiete, das Anbieten von Forschungsreisen und nach dem Verlust der deutschen Kolonien die aktive Verbreitung des Kolonialrevisionismus

Die Kolonialwoche

Ein besonderes Ereignis für die Stadt Tübingen war die in Stuttgart 1928 ausgetragene Kolonialwoche. Während der Kolonialwoche wurden Vorstands- und Hauptversammlungen der deutschen Kolonialgesellschaft, sowie des Kolonialen Frauenbund in Stuttgart abgehalten. Auch gab es eine große Kolonialausstellung und es kam zu Aufmärschen ehemaliger Kolonialschutztruppen in Begleitung von Musikkappelen durch die Stuttgarter Innenstadt. Neben vielen hochrangigen Mitgliedern der deutschen Kolonialgesellschaft war auch der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Neuguinea und zukünftige Tübinger Dozent Eduard Haber in Stuttgart für die Festlichkeiten. 

Der Höhepunkt der Kolonialwoche aus Tübinger Sicht wurde am letzten Tag der Kolonialwoche erreicht, als sie im Schloss Tübingen, unter Aufsicht des Präsidenten der deutschen Kolonialgesellschaft, 150 weiteren, teils hochrangigen Mitgliedern der Gesellschaft, sowie dem Prorektor der Uni Tübingen und dem Vorsitzenden des Tübinger Zweiges Carl Uhlig beendet wurde. Hierbei wurde die Gesellschaft erst durch das in Tübingen ansässige Tropengenesungsheim geführt, danach lud die Universität Tübingen noch zu einem Versperschoppen im Schloss ein. Hierzu waren auch die Tübinger Studenten ausdrücklich eingeladen. Die Universität Tübingen sprach hierbei von der „vaterländischen Pflicht“ eines jeden Studenten, dieser Veranstaltung beizuwohnen. Wie die Tübinger Chronik am nächsten Tag beschrieb, waren die anwesenden Studenten mit viel Leidenschaft und Begeisterung ein Teil dieser Veranstaltung. Während der Veranstaltung wurde die Rolle der Tübinger Wissenschaft als „geistige Helferin an den kolonialen Arbeiten“ durch den Vorsitzenden der Kolonialgesellschaft, Theodor Seitz, hervorgehoben (Gräbel 2020).

Kolonialwarenläden in Tübingen

Zum ersten Mal findet sich die Bezeichnung „Kolonialwarenhandlung“ in dem Adress- und Geschäftshandbuch von Tübingen im Jahr 1887 (Adress- und Handbuch von Tübingen 1887: 27). Mit der Etablierung der ersten deutschen Schutzgebiete ging ein Kolonialwaren-Boom in Tübingen einher (Stadtverwaltung Tübingen 1898: 16ff). Viele der angegebenen Tübinger Geschäfte verfügten in ihrem Sortiment neben den überseeischen Gütern auch über regionale und alltägliche Produkte, daher wäre die Bezeichnung „Gemischtwarenhandlung“ passender gewesen. Jedoch erfreuten sich die außereuropäischen Genussmittel großer Beliebtheit in der Gesellschaft, was vermutlich ausschlaggebend für die einseitige Bezeichnung der Handlungen war (Adress- und Handbuch von Tübingen 1887: 27). Bei den Handlungen handelte es sich meist um private Einzelhandelsläden. Sie waren dezentral organisiert und sorgten durch die große Flächendichte für einen Abdeckung des gesamten Innstadtbereichs mit Kolonialwaren (Witzler, 2021). Mit dem Abtritt der deutschen Schutzgebiete durch Inkrafttreten des Versailler Vertrags 1920 endete die Zeit der Kolonialwarenhandlungen in Deutschland nicht schlagartig - im Gegenteil: die Kolonialbegeisterung hielt sich in weiten Teilen der Bevölkerung noch über Jahrzehnte, weshalb auch in der Weimarer Republik weitere Kolonialwarenhandlungen in Tübingen entstanden. Nachdem sich die städtische Bevölkerung an die überseeischen Produkte gewöhnt hatte, wollte sie auf diese nicht mehr verzichten. Um ihr Bestehen zu sichern, nahmen einige Länder vermehrt regionale Güter und Produkte des alltäglicgen Bedarfs auf, entwickelten sich also zu sogenannten „Tante-Emma-Läden" (Hirsch 1913: 77).

Beliefert wurden die Geschäfte vermutlich durch den „Großeinkaufsvereins der Kolonialwarenhändler Württembergs“, der ein Zentrallager direkt am Cannstatter Güterbahnhof hatte und nach dem zweiten Weltkrieg ein weiteres Lager in Tübingen errichtete. In dem 1903 gegründeten genossenschaftlichen Zusammenschluss von Einzelhändlern waren auch Tübinger Kaufleute Mitglieder. Der Tübinger Kaufmann Karl Stahl wurde Mitte des 20. Jahrhunderts sogar zum Aufsichtsrat des Vereins ernannt (Six, 2018/GeKaWe, 1953, S. 51ff). Erst 1942 wurde die Kategorie: „Kolonialwaren“ in den Tübinger Adressbüchern durch die Bezeichnung „Lebensmittel“ ersetzt, mehr als 20 Jahre nach Abtretung der deutschen Schutzgebiete (Adress- und Handbuch von Tübingen 1942, Teil II, S. 19). 

Eine Ausnahme unter den Kolonialwarenhandlungen stellte das „Havannahaus“ in der Neckarstr. 7 (Heute Neckargasse 7) dar. Anders als die anderen Handlungen war es nicht nach dem Gründer und Inhaber Kaufmann Eugen Schnell benannt, sondern hatte einen produktbezogenen Namen. Bei der Handlung handelte es sich um ein Spezialgeschäft für „Cigarren, Cigarretten und Tabakprodukte“ (Adress- und Handbuch von Tübingen 1914, S. 182). Der Name des Geschäfts bezog sich auf die aus Kuba stammende Ware: Zigarren. Auch andere Tabakhandlungen in Tübingen warben zeitgleich mit dem „Import ächter [echter] Havannas“ (Adress- und Handbuch von Tübingen 1914, S. 182). Das „Havannahaus“ ist sinnbildlich für die damaligen Zigarrenhandlungen, welche noch lange nach Abtretung der deutschen Schutzgebiete weiter bestanden. Heute findet man kaum noch Relikte, die auf die zahlreichen Kolonialwarenläden in der Tübinger Altstadt verweisen. Die Nachfrage nach außereuropäischer Ware ist jedoch geblieben, wie das Angebot in den deutschen Supermarktregalen und Gastronomie zeigt.

Tiergarten auf dem Spitzberg

Auf dem Spitzberg finden sich Ruinen, die zu einem Tiergarten gehören, welcher hier von 1907 bis 1919 betrieben wurde. Er wurde nach seinem Gründer und Besitzer Eugen Mannheim (1879-1974) „Der Mannheim“ genannt (Grewe 2019). 
Der in Tübingen aufgewachsene Eugen Mannheim erwarb 1906 ein sieben Hektar großes Anwesen am Spitzberg oberhalb des Neckartals, auf dem er nicht nur einheimisches Wild sondern auch exotische Tiere präsentierte. Er ließ einen Gasthof sowie die notwendigen Tiergehege errichten und kündigte 1907 die Eröffnung seines Tiergartens auf dem Spitzberg an (ebd.). Er kaufte und tauschte Tiere mit den einschlägigen Händlern, wie dem Ulmer Julius Mohr oder dem Tierparkbesitzer Carl Hagenbeck. Sein genauer Tierbestand lässt sich allerdings kaum rekonstruieren, da Eugen Mannheim ständig Tiere mit anderen Tiergärten tauschte, worüber aber keine Aufzeichnungen zu finden sind. .Verschiede Quellen geben Aufschluss über den Bestand des Tiergartens. So wird von Raubkatzen, einer abessinischen- und einer Berberlöwin, einem amerikanische Silberlöwem, einem Leoparden, Ozeloten, amerikanischen Wildkatzen, Affen, Eisbären, Braunbären, Baribals (amerikanischer Schwarzbär), Malaienbären und einem Kragenbär berichtet (ebd.; Joerres 2022). Auch wenn bereits einige von Mannheims Tieren aus Nachzuchten in Tiergärten stammten, waren die meisten noch in den Kolonien gefangene Jungtiere (Grewe 2019).  Dieser Tierpark entwickelte sich schnell zur Attraktion der Gegend. Neben Burschenschaften besuchte auch König Wilhelm II. von Württemberg in Begleitung seiner Enkel im Juni 1907 den Tierpark und ließ umgehend eine großzügige Geldspende überweisen (Willig 2022). Das Besucherinteresse an den exotischen Tieren aus den Kolonien war beträchtlich (Grewe 2019). Als am 1. August 1914 der Krieg ausbrach, wurde Eugen Mannheim bereits drei Tage später zum Militär eingezogen. Ihm blieb nichts anderes übrig als die Großtiere nach und nach an verschiedene Tiergärten zu verkaufen. Der Tierpark musste geschlossen werden und wurde bis 1919 aufgelöst (Joerres 2022). Allgemein erinnern die Ruinen auf dem Spitzberg „nicht nur an einen fast vergessenen Tiergarten, sondern auch an eine koloniale Vergangenheit, die selbst im schwäbischen Hinterland Spuren hinterlassen hat“ (Grewe 2019).

Der Grabstein mit dem Elefantenorden

Bei genauerer Betrachtung des Ordens auf dem Grab Alfred Köblings, erkennt man folgende Inschrift: „Südsee * Afrika * Kiautschou“.  Sie verweisen auf das deutsche Kolonialreich, genauer um die Kolonien beziehungsweise Schutzgebiete des Deutschen Kaiserreichs. Die „Südsee“ steht für die Kolonien auf Papua-Neuguinea und im Pazifik, Afrika für das ehemalige Deutsch-Südwestafrika (Namibia), Kamerun und Togo (Westafrika), sowie Deutsch-Ostafrika (Tansania, Burundi und Ruanda) (Michalsky 2014) und „Kiautschou“ für eine 515 km² große Kolonie in Nordostchina (Scriba 2014). Des Weiteren lässt sich das Relief eines mit erhobenem Rüssel marschierenden Elefanten erkennen. Im Hintergrund befindet sich eine Palme, im Fußbereich Eichenlaub. Beide gehören unterschiedlichen Klimazonen an. Im Gegensatz zur Palme ist Eichenlaub vielmehr von militärischen Orden, Kriegerdenkmälern oder Münzen bekannt (Grewe 2019).
Dieses Kolonialabzeichen, der Elefantenorden, wurde vom Reichsministerium für Wiederaufbau ab 1922 auf Antrag an diejenigen vergeben, welche sich während des Ersten Weltkriegs für die Wahrung der Interessen der ehemaligen deutschen Schutzgebiete besonders engagiert hatten (Döbel 2021). Jenes Emblem wurde im Nachhinein vor allem an deutsche Soldaten verliehen, die in den Kolonien zur Zeit des Ersten Weltkriegs gekämpft hatten. Da während der Weimarer Republik der Kolonialismus große Befürwortung erfuhr, fand eine nachträgliche Ehrung der Soldaten durch die Verleihung des Elefantenordens statt (Grewe 2019). Diese Auszeichnung wurde auch Alfred Körbling zuteil. Da die Ausgestaltung eines Grabsteins ebenfalls eine Aussage ist, kann die Platzierung des Elefantenordens nur als Ausdruck von Zufriedenheit und Stolz für die Tätigkeit Alfred Körblings in der Schutztruppe verstanden werden. In damaliger Zeit wurde der Kolonialismus als durchaus legitim und ehrenwert angesehen. Dadurch war der Blick auf die Kolonialzeit lange sehr unkritisch und beschönigend. Die zwischenzeitlich nachgewiesenen Kolonialverbrechen, die bis zum Völkermord gingen, gelangten erst in der Nachkriegszeit in den Fokus der Öffentlichkeit.
Entworfen wurde das Kolonialabzeichen vom 1876 bei Leipzig geborenen Bildhauer Karl Möbius, welcher vom Kolonialhistoriker Dr. Joachim Zeller als „der“ deutsche Kolonialbildhauer klassifiziert wird (Schöfert 2020: 1). Seine Werke warem stark von der Kolonialzeit und beiden Weltkriegen geprägt. Vor allem ab 1907 und den folgenden Jahren nahmen die Aufträge aus Militär, kolonialen Organisationen, Wirtschaft und Vereinen deutlich zu. Möbius war zum Beispiel 1912, bei der Enthüllung seines Standbilds von Hans Dominik, eines Offiziers der Kameruner Schutztruppe, in Kribi/Kamerun sogar persönlich anwesend (Schöfert 2020: 5f.). Auch in der Weimarer Republik zeigten seine Werke meist Persönlichkeiten der Militärhistorie oder Abbildungen aus der Kolonialzeit, wie zum Beispiel den Elefantenorden (Schöfert 2020: 12ff.). Bis 1938 wurde der Orden schätzungsweise 8000 Mal verliehen (Döbel 2021). Einige Vereine übernahmen den Elefantenorden auch als Vereinsemblem, Möbius selbst verwendete dieses Motiv für einen „1925 aufgestellten Kolonialgedenkstein in Nordhausen (. . . ) im Harz“ (Schöfert 2020: 12). 

Literatur