Schlussbetrachtung

Abschließend ist zu beachten, dass „(...) die Universität selbst eine aktive koloniale Wissenserzeugung betrieb [und] (. . . ) aktiv zur Verbreitung des kolonialen Gedankens bei[trug].“ (Lutum-Lenger u. Müller 2019: 11). Ihre direkte Verbindung zu prägenden Einzelpersonen und somit direkt in die Stadtgesellschaft ist ein Merkmal des kolonialen Tübingens. Das Interesse für das Thema Kolonialismus beschränkte sich schon bald nicht mehr auf die Kursteilnehmer an der Universität, sondern breitete sich rasch in allen Gesellschaftsschichten aus. Diese Beobachtung stützt sich auf die Gründung gesellschaftlicher Initiativen wie den Zweigverein der Deutschen Kolonialgesellschaft Tübingen oder die hohe Kolonialwarenhandlungsdichte ab Beginn des 20. Jahrhunderts im Tübinger Stadtbild. Viele Berichte sprechen von einer regelrechten Kolonialbegeisterung. Interessant ist, dass es immer wieder die gleichen Namen sind, die in den historischen Schriften und Publikationen auftauchen, so dass eine regelrechte Durchdringung der Akteure in den Bereichen Wissenschaft, Religion,Wirtschaft und Gesellschaft entsteht. Insbesondere die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und der Religion in Form von ärztlichen Missionen, die auch für die Gründung des Tropenklinikums verantwortlich war, kann anhand der vorgefundenen Quellen gut nachvollzogen und dargestellt werden. Andere Faktoren wie die kirchlichen Missionen, die gehäuft im ländlichen Umland tätig waren und politische Aspekte zur Kolonialzeit konnten in der Recherche aufgrund mangelnder Ressourcen nicht weiter berücksichtigt werden, sind aber sicherlich einer tiefgreifenden Erforschung wert.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Tübingen eine nicht zu unterschätzende Rolle im Kolonialgeschehen Deutschlands einnahm. Ähnlich wie in anderen deutschen Städten waren koloniale Strukturen, offensichtliche wie auch versteckte, in das alltägliche Stadtbild integriert. Eine herausragende Stellung weist Tübingen im Bereich der Tropenmedizin und dem kooperierenden Tropengenesungsheim auf  – das Senatorium Tropicale war eines von zwei Einrichtungen dieser Art im gesamten deutschen Kaiserreich – sodass sich Tübingen auf Augenhöhe mit der „Kolonialstadt Hamburg“ (Linne 2003: 276) befand.

Spuren aus der Zeit finden sich nur noch sehr wenige im Stadtbild, was auf die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die Überprägung oder Sanierung alter Gebäude zurückzuführen ist. Dennoch erinnern Relikte wie Straßennamen, Grabsteine auf dem Tübinger Stadtfriedhof oder das Missionsfenster im Tropengenesungsheim der Stadt an eine fast vergessene Vergangenheit.

Im Zuge des verabschiedeten Kulturprogramms der Landesregierung Baden-Württembergs, welche versucht durch finanzielle Anreize die Aufarbeitung der kolonialen Verstrickungen anzustoßen, ist ein erster Schritt hin zu einer nachhaltigen Aufarbeitung erfolgt. Dies zeichnet sich vor allem durch eine in den letzten Jahren zugenommenen Pluralität an universitären Forschungsarbeiten und Veranstaltungen, welche sich zunehmend in der Gesellschaft wiederfinden wird, aus. Allerdings prägen die Schatten des Nationalsozialismus bis heute die nationale Identität Deutschlands und überprägen zu weiten Teilen das koloniale Erbe. Dabei kann eine weitreichende Aufarbeitung einen Beitrag zur Überwindung des heute alltäglichen, ursprünglich aus der Kolonialzeit stammenden, Rassismus leisten.

Die Schlussbetrachtung zeigt deutlich, dass es sich bei Tübingen nicht um eine Stadt wie viele Andere handelte, sondern dass sie aufgrund der herausragenden Universität, der gesellschaftlichen Zusammensetzung sowie einer öffentlich gelebten Kolonialkultur eine prominente Rolle in Südwestdeutschland einnahm.