Uni-Tübingen

Teilprojekt B02: Hungerkatastrophen als Bedrohung religiöser und sozialer Ordnungen. Bedrohungskommunikation und Bewältigungshandeln in christlichen Gesellschaften (1570 – 1980)

Abstract

Das Teilprojekt B02 untersucht in drei Zeitschnitten (1570–1715; 1870–1929 und 1960–1980), wie Bedrohungen durch Hungerkatastrophen zu religiösen und religiös induzierten gesellschaftlichen Bewältigungs- und Ordnungsanstrengungen führten. Im Mittelpunkt steht die schritt- und phasenweise Globalisierung von Katastrophenverantwortung, die in den europäischen Gesellschaften mit erheblichen Rekonfigurationen des Gottes-, Welt- und Menschenbildes sowie mit Institutionalisierungsprozessen einhergingen.

Projektteam

Projektleitung:

Prof. Dr. Andreas Holzem

Mitarbeiter/innen:

Dr. Jürgen Michael Schmidt

Christina Riese, Dipl. theol.

Johannes Stollhof

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Theologie, Mittlere und Neuere Kirchengeschichte

Projektbeschreibung

1. Zusammenfassung

Europäische Gesellschaften antworteten auf die Bedrohung durch Hungerkatastrophen über Jahrhunderte hinweg auf zwei Ebenen der Bewältigung:

a) auf der Ebene theologischer Deutungen und einer entsprechenden religiösen Praxis,

b) auf der Ebene der (Weiter-)Entwicklung von gemeinschaftlichen Sicherungssystemen.

Verklammert sind diese beiden Ebenen durch einen unaufhebbaren Konnex christlicher Weltdeutung und Sozialverantwortung. Der tief greifende Wandel dieser Wechselbeziehung wird in drei Untersuchungen bzw. Zeitschnitten bearbeitet:

Die Untersuchungen 1–3 analysieren also längsschnittartig den Konnex von Bedrohungen durch Hungerkatastrophen mit religiösen und religiös induzierten gesellschaftlichen Bewältigungs- und Ordnungsanstrengungen. Dieser kann als schritt- und phasenweise Globalisierung von Katastrophenverantwortung im Angesicht des Hungers beschrieben werden, die mit erheblichen Umbauten des Gottes-, Welt- und Menschenbildes, keineswegs aber mit einliniger ‚Säkularisierung‘ oder ‚Modernisierung‘ einhergingen.

Die vier zentralen Leitdimensionen des SFB sichern die analytische Kohärenz des Teilprojekts: Die Sachdimension der Hungerbedrohung unterlag zwischen dem 16./17. und dem 20. Jahrhundert einem signifikanten Wandel von quälendem Hunger über eklatanten Mangel hin zu indirekter globaler Krisenwahrnehmung. Die Zeitdimension verschob sich entsprechend: von einer unaufhebbaren conditio humana und einem drängenden Indiz des nahenden Weltendes über die Dringlichkeit christlich begründeter Sozialpolitik hin zu einer ‚eschatologisierenden‘ Angst vor einem Zusammenbruch der Weltökologie und der Nahrungsgrundlagen der Menschheit als Ganzes. Die Sozialdimension von Hungerbedrohung und -bewältigung bezog ihre streitbare Dynamik nicht nur aus den gesellschaftlichen Verteilungskonflikten, sondern auch aus der Kommunikation mit transzendenten Mächten als elementarem Bestandteil des Bedrohungsszenarios. Die emotionale Dimension der Bedrohung ist starken Veränderungen ausgesetzt. Sie hängt zwar mit Sach-, Zeit- und Gesellschaftserfahrung zusammen, aber nicht im Sinne einer einfachen Korrelation.

Das Teilprojekt fragt also danach, wie die Sach- und Zeitdimension der Bedrohungserfahrung mit dem Erklärungswandel des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz zusammenhing (Ebene a). Daraus entwickelte das 16./17. Jahrhundert ein signifikant anderes soziales und emotionales Bewältigungshandeln als das 19. oder 20. Jahrhundert (Ebene b).

2. Zielsetzung und Arbeit des Teilprojekts

Das Teilprojekt fragt auf zwei Untersuchungsebenen nach dem Zusammenhang von a) institutionellen Ordnungsanstrengungen und b) theologischen Deutungen und einer entsprechenden religiösen Praxis angesichts der Hungerbedrohung. Um langfristigen Wandel solcher Bedrohungskommunikation und -bearbeitung nachzeichnen zu können, werden drei Zeitschnitte angelegt: in der Frühen Neuzeit, in der Hochindustrialisierung, schließlich in den globalen Hungerkatastrophen der 1960/70er Jahre. Jene vier Dimensionen, die den SFB insgesamt prägen, werden auf die Einzeluntersuchungen und ihren Zusammenhang angewandt: die Wahrnehmung und Medialisierung der Sache selbst, die damit verbundenen Zeiterfahrungen und Zukunftserwartungen, die dadurch ausgelöste gesellschaftliche Dynamisierung und das ihr zugrunde liegende emotionale Potential. Diese Strukturachsen sichern die Kohärenz des Teilprojekts und vernetzen die Einzeluntersuchungen.

2.1 Zwei Untersuchungsebenen

Über Jahrhunderte hinweg antworteten die europäischen Gesellschaften auf Hungerkatastrophen mit einer doppelten Strategie der Bewältigung. Die Bedrohung forderte erstens ein caritatives bzw. sozialstrategisches Bewältigungshandeln, das sich als christliche Gemeinwesenverantwortung gegen die soziale Verwundbarkeit (social vulnerability, vgl. Pfister/ Brázdil 2006) begriff. Sie forderte zweitens die religiöse Orientierung heraus: Hungerkatastrophen waren in der Konkurrenz von religiösen, magischen und rationalen Deutungen so zu erklären, dass sie das christliche Gottesbild mit seinen biblischen Bezügen und das Ordnungsgefüge der traditionsgebundenen religiösen Praxis nicht tangierten und somit deren grundlegende kulturelle Verwundbarkeit (cultural vulnerability) offenlegten. Das Teilprojekt bearbeitet daher die Bedrohung westlicher Gesellschaften durch Hungerkatastrophen als Auslöser und Katalysatoren konkreter Furcht und gemeinschaftlicher Handlungsimpulse auf zwei Ebenen:

a) auf der Ebene theologischer Deutungen und einer entsprechenden religiösen Praxis,

b) auf der Ebene gemeinschaftlicher Sicherungssysteme und Institutionen für das möglichst standesgemäße bzw. menschenwürdige (Über-)Leben möglichst Vieler.

2.2 Drei Zeitschnitte

Das Teilprojekt analysiert den Konnex von Bedrohungen durch Hungerkatastrophen mit religiösen und religiös induzierten gesellschaftlichen Bewältigungs- und Ordnungsanstrengungen, welche freilich ihrerseits wieder neue Risiken aus sich entließen. Eng verzahnte Zeitschnitte zeigen die durch die Bedrohungsszenarien aufgeworfenen kognitiven, institutionellen und Gesellschaft modellierenden Herausforderungen in ihrem Zusammenhang. Dieser kann als schritt- und phasenweise Globalisierung von Katastrophenverantwortung im Angesicht des Hungers beschrieben werden (Ebene b), der mit erheblichen Umbauten des Gottes-, Welt- und Menschenbildes einherging (Ebene a). Daraus ergibt sich freilich keine Säkularisierungs- oder Fortschrittsgeschichte. Kennzeichnend – und erklärungsbedürftig – ist vor allem für das späte 20. Jahrhundert eine signifikante Re-Theologisierung von Hungerkatastrophen (Ebene a), gleichzeitig eine Ausdehnung der Verantwortung für sofortigen, ja gefährlich überfälligen Wandel von Sozialstrategien in nunmehr globalem Maßstab (Ebene b).

1570–1715 betrachteten Betroffene Hungerkatastrophen der sog. „Kleinen Eiszeit“ vorrangig in der transzendenten Perspektive einer theonomen Weltauffassung: Transzendenten Mächten wurde ein erheblicher und unmittelbarer Einfluss auf Geschichte und Gesellschaft zugeschrieben: Die Gerechtigkeit Gottes werde durch menschliche Sünde zu Zorn und Vergeltung herausgefordert, um Umkehr und eine christlichere Lebensführung zu bewirken. Im Rahmen der politisch-gesellschaftlich-kulturellen Ordnungskonfiguration des 16./17. Jahrhunderts wurden daher die beiden o.g. Ebenen von Bedrohungskommunikation und Bewältigungshandeln nicht als gleichrangig wahrgenommen: Die theologischen Deutungen und die daraus hergeleitete religiöse Praxis (Ebene a) besaßen einen Vorrang vor Ordnungen sozialstrategischer Planung und Institutionalisierung (Ebene b).

Der erste Zeitschnitt ist unverzichtbar zum Verständnis der beiden folgenden Schnitte. Hier werden die religionskulturellen Grundlagen der Bedrohungskommunikation erörtert, mit denen sich das 19. und 20. Jahrhundert auseinanderzusetzen hatte. Hier werden Gesellschaften unter Veränderungsdruck analysiert, deren Bewältigungshandeln vorwiegend in Kommunikation mit transzendenten Mächten bestand, das Magische nutzend, das Teuflische bekämpfend und/oder den Zorn Gottes beschwichtigend.

Obwohl die Kirchen, insbesondere der ultramontane Katholizismus im 19. Jahrhundert, teils bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an einer theonomen Begründung der Sozialmoral festhielten, interpretierten sie Hungerbedrohungen 1870–1929 nicht mehr als direkt aus dem Himmel gewirkte Maßnahme verdienter göttlicher Vergeltung, erst recht nicht als Folge von Teufelspakten. Es ist zu analysieren, wie ältere Paradigmen nunmehr bewertet wurden und welche theologischen und religionsphänomenologischen Wirkungen das hatte (Ebene a). Gleichzeitig entstand so ein erheblich erhöhter Druck, auf Verelendung durch stark erhöhtes kommunikatives, emotionales und soziales Engagement ‚eigenhändig‘ zu reagieren (Ebene b).

Hungerkatastrophen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ein Phänomen der „Dritten Welt“ Afrikas und Asiens (z.B. Indien, Biafra, Sahel, Bangladesch). 1960–1980 rückten sie den westlichen Wohlstands- und Wirtschaftswundergesellschaften bedrohlich nahe, indem sie als Vorboten einer Weltüberbevölkerung, einer globalen Auszehrung der Ressourcen und Vorwegnahme eines vergleichbaren europäischen Schicksals wahrgenommen wurden. Das Bedrohungsszenario, das von diesen weltweit medialisierten Hungerkatastrophen ausging, hat sich freilich zwischen ca. 1960 und ca. 1980 (genauere Eingrenzung im Kontext der Untersuchung) erheblich verändert.

Die späten 1950er und 1960er Jahre zeigen eine sich vor allem auf den Dekolonialisierungsprozess richtende konkrete Furcht vor einer Ausweitung des kommunistischen Einflusses und einem Aufstand technisch und wirtschaftlich unterlegener, zahlenmäßig aber kaum beherrschbarer Menschenmassen. Dagegen wurde von der „Macht der modernen Technik“ im Rahmen der Modernisierungstheorie eine Wiederholung westlicher Muster der Wirtschaftsentwicklung, der Bildungsstandards und der Mentalität erwartet.

In den 1970er Jahren hingegen standen Ängste vor der Weltüberbevölkerung und vor einem ökonomisch-ökologischen Kollaps bzw. einem globalen Kampf um sich dramatisch verknappende Rohstoff-Ressourcen an erster Stelle. Die alarmierte Furcht wurde durch den Schock der Ölkrise und ihre wirtschaftlich-sozialen Folgen im Westen (1973), aber auch durch die Berichte des ‚Club of Rome‘ über „Die Grenzen des Wachstums“ (1972/76) erheblich befördert. Die Modernisierungstheorie, bislang Grundlage einer Entwicklungspolitik, die einseitig auf eine Wiederholung der Industriellen Revolution in den Entwicklungsländern gesetzt hatte, erwies sich zu Beginn der 1980er Jahre als weitgehend gescheitert.

Dieser makroökonomische Prozess wurde – außer von unmittelbaren Teilnehmern – bislang nie auf religions- und kulturgeschichtliche Implikationen befragt: auf den im hiesigen Teilprojekt interessierenden Zusammenhang von Bedrohungen durch Hungerkatastrophen mit religiös induzierten gesellschaftlichen Bewältigungs- und Ordnungsanstrengungen.

2.3 Vier Dimensionen

Die Sachdimension der Bedrohung durch Hungerkatastrophen unterlag in Westeuropa zwischen dem 16./17. und dem 20. Jahrhundert einem signifikanten Wandel. Quälender Hunger war in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Folge des von Deutschland weltweit ausgeweiteten Krieges geworden. Das voraufliegende Jahrhundert kannte eklatanten Mangel, jedoch kaum noch den massenhaften Hungertod (vgl. aber Irland 1847–52). Anders in der Frühen Neuzeit: Hungerkatastrophen standen in einem engen Zusammenhang mit den Klimaschüben der sog. „Kleinen Eiszeit“ und den Ressourcen verzehrenden Heeres- und Seuchenzügen des Dreißigjährigen Krieges wie der Kriege des späteren 17. Jahrhunderts, die eine teils verheerende demographische Abwärtsspirale, teils die virulente Furcht davor nach sich zogen. Also gilt es den Wandel der sachlichen Bedrohungsszenarien nachzuzeichnen. Wie wird eine Hungerkatastrophe erfahren und (medial) vermittelt: Durch den Tod des Viehs, des Nachbarn, der eigenen Kinder, die Agonie des eigenen ausgemergelten Körpers (U 1)? Oder durch die stete Angst vor dem sozialen Abstieg, das Erleben von Migration und Ausgesetztheit, aber auch die Fremdbeobachtung als Anreiz zu sozialem Engagement (U 2)? Oder als Betrachten aufrüttelnder Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Kindern mit von Hungerödemen aufgetriebenen Bäuchen, verbunden mit der Wahrnehmung krasser globaler Wohlstandsunterschiede, die man als durch nichts zu rechtfertigen empfindet (U 3)?

Zu den interessantesten Aspekten gehören die Verschiebungen der Zeitdimension europäischer Bedrohungserfahrungen durch Hungerkatastrophen. In der Frühen Neuzeit schwankte die Zeiterfahrung, oft in der Trias von „Pest, Hunger und Krieg“ zusammengefasst, zwischen einer unaufhebbar währenden conditio humana und einem drängenden Indiz des nahenden Weltendes. Beide Zeitvorstellungen waren mit der Sozialdimension der Bedrohungserfahrung eng verwoben, mit der Frage nämlich, ob Gott in der Not ein sündiges Gemeinwesen strafend zur Buße rufe (und dies immer wieder würde tun müssen) oder ob die Dramatik der Jetzt-Ereignisse das Ende aller Geschichtszeit signalisiere und mit eschatologischen, nicht konfessionalisierenden Handlungsmustern beantwortet werden müsse (U 1). Mit dem Beginn der Aufklärung säkularisierte sich die Bedrohungserfahrung (bislang) unumkehrbar, was ihre Zeitdimension erheblich verschob. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierende Ultramontanismus konnte hinter diesen Wandel nicht mehr zurück: Wenn Hungerkatastrophen Folgeerscheinungen der liberalkapitalistisch-aufgeklärten Moderne, nicht des Gotteszorns darstellten, war darauf mit christlich begründeter Sozialpolitik, nicht mehr mit Konfessionalisierungsanstrengungen und Hexenjagd zu antworten (U 2). Im späten 20. Jahrhundert jedoch entgrenzte die räumliche Ausweitung der Bedrohungserfahrung und der Verantwortlichkeit ins Globale erneut die Zeitdimension: Die „Theologie nach Auschwitz“ (J. B. Metz) vertrat die These einer apokalyptischen Unterbrechung der ins Geschichtskontinuum infinitum fortgesetzten Spirale von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Flankiert wurde diese Theologie in den o.g. Gruppen durch die in soziologisch-ökonomischen Katastrophenszenarien begründete konkrete Furcht vor einem Zusammenbruch der Weltökologie und der Nahrungsgrundlagen der Menschheit als Ganzes. Dadurch aber blieb – gegen Metz – doch eigentümlich offen, in welcher Form und vor welcher Instanz eine Rechtfertigung des Menschen stattzufinden haben würde (U 3).

Das Teilprojekt fragt also insbesondere danach, wie die Zeitdimension der Bedrohungserfahrung mit dem Erklärungswandel des Verhältnisses von Welt und Gott, Immanenz und Transzendenz zusammenhing (Ebene a). Daraus entwickelte das 16./17. Jahrhundert ein signifikant anderes Bewältigungshandeln als das 19. oder 20. Jahrhundert (Ebene b).

Zum Grundansatz des Teilprojektes gehört es, die Sozialdimension so zu definieren, dass die Gesellschaftlichkeit des Religiösen die Kommunikation nicht nur über Transzendenz, sondern auch mit transzendenten Mächten als elementaren Bestandteil einschließt. Bedrohung erzeugt Einbezug und Ausgrenzung. Motivation und Konditionierung frühneuzeitlicher Gesellschaften setzten auf eine Unterscheidung zwischen guten Christen und Anhängern des Teufels, deren Geltung durch massive kultische Anstrengung ebenso zu erzeugen und aufrecht zu erhalten war wie durch Malefizverfahren (U 1). Katholische Sozialtheoretiker und -praktiker/innen des 19. Jahrhunderts verstanden ihr Engagement als Kommunikation mit dem Christus der Passion – ein scharfes Distinktionskriterium von „im Herzen erkalteter“ Sozialtechnologie humanistisch orientierter Eliten (U 2). Im Gewand des Jugendprotestes für die „Dritte Welt“ wiederholten sich vergleichbare Exklusionsstrategien. Wer gegen den vermeintlich satten, mit der Adenauer-Ära (auch im Hinblick auf konfessionelle Milieus) identifizierten Wirtschaftswunder-Kapitalismus „aufstand“, glaubte sich auch dem „historischen Jesus“ im Widerstand gegen alle Unterdrückung besonders nahe (U 3). Das Teilprojekt will zeigen, dass gerade diese Kommunikation über, aber auch mit transzendenten Mächten der Sozialdimension der Bedrohung durch Hungerkatastrophen eine streitbare Dynamik verlieh und alle modernisierungstheoretisch vermeintlichen Säkularisierungen unterlief.

Auf diese Sozialebene gehört dann – auf der Grundlage je spezifischer Gott-Welt-Mensch-Denkszenarien – auch eine Rekonstruktion des Bewältigungshandelns: In der frühen Neuzeit blieb es aufgrund begrenzter Mittel und Infrastruktur rudimentär, gleichwohl wurde es im Gefolge spätmittelalterlicher Zentrierungstendenzen der Herrschaft als Ordnungsaufgabe einer christlichen Obrigkeit zunehmend zentral (U 1). Während die Hungerkatastrophen der Frühen Neuzeit, auch des frühen 19. Jahrhunderts in ihrem Verhängnischarakter noch die relative Hilflosigkeit sozialer Institutionen hervortreten ließen und dadurch auch die Bedrohungsdeuter delegitimierten, entwickelten sich zwischen etwa 1850 und 1914 enorme Potentiale der Bedrohungsabwehr. Sie beruhten freilich auf sehr gegensätzlichen weltanschaulichen und sozialpolitischen Grundannahmen und waren einer Dauerdiskussion im Hinblick auf Finanzierbarkeit, Wirksamkeit und soziale Gerechtigkeit ausgesetzt. Das Verhältnis von Bedrohung und Bewältigung, zunächst für beherrschbar gehalten, wurde gegen Ende des Untersuchungszeitraums zunehmend als völlig fatal eingeschätzt – mit dramatischen politischen Folgen (U 2). Im späten 20. Jahrhundert der nach-’68er Jahre entstand ein neuer innergesellschaftlicher Druck, außergesellschaftlich weit entfernt stattfindende Hungerkatastrophen zu verantworten und zu bewältigen. Diese Konstellation trug zu veränderten Strategien sozialen Handelns bei, weil die zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik entwickelte konsensuell-duale Struktur von religiösen Verbänden und staatlichem Handeln in Frage gestellt wurde: Staat und Wirtschaft (und die „spießige“ Gesellschaft) galten als mitverantwortlich für die Hungerkatastrophe, die es zu bewältigen galt (U 3).

Wie viel auf allen diesen Ebenen gefühlt wurde, braucht nun kaum noch erläutert zu werden. Die emotionale Dimension der Bedrohung ist ein Spiegel nicht nur der Wucht, sondern auch der Richtung der Furcht. Erleben hilflos ausgesetzte, regional eingegrenzte Menschen elementare Angst als ein markerschütterndes Erfassen misslingender Versuche, Lebensordnungen aufrecht zu erhalten und als dramatisches Vorausahnen des noch Schlimmeren? Ergeben sich daraus die zwei Richtungen der Weiterentwicklung, die sich keineswegs ausschließen müssen: soziale Organisation von Wut und Aggression, mündend in die Denunziation und das institutionalisierte Opfern der Sündenböcke oder aber sich einfügende Frömmigkeit, welche dieser Epoche seitens der Aufklärer als „geisttötender Mechanismus“ zum Vorwurf gemacht werden wird (U 1)? Empfinden Menschen des 19. Jahrhunderts ‚moderner‘, indem sie Empörung über die sozialen, kulturellen und religiösen Folgen der Industrialisierung in eine Mischung aus Mitleid und Überlegenheitsgefühl kleiden? Dominieren Erinnerungslosigkeit oder Romantisierung im Rückblick auf vorindustrielle Phasen europäischer Geschichte? Verändern sich Bedrohungsgefühle, wenn gegen Ende der Weimarer Republik trotz Jahrzehnte langer Anstrengungen das soziale System kollabiert, der Hunger Alltag und die Katastrophe erneut geahnt wird, hin zu lähmender Verzweiflung und Resignation (U 2)? Wie entfaltete sich Angst in globalen Zusammenhängen, wenn sie nicht mehr an konkretes Selbst- oder Naherleben anknüpfen kann? Wie fühlte sich medial vermittelter Hunger an, in der Zeitung, im Fernsehen angeschaut, in Misereor-Fastenaktionen zur meditativen Praxis verarbeitet, in Pappkarton-Slum-Szenarien in Jugendheimen nachgespielt, zwischen solidarischen Motivationen, Zukunftssorgen für die eigene Lebenswelt und Aggression gegen das „Establishment“ und die „Alten“ (U 3)?

3. Methode und Arbeitsrichtung der Einzeluntersuchungen

U 1: Im frühneuzeitlichen Europa traf die Klimakatastrophe der kleinen Eiszeit eine vorindustrielle, agrarisch geprägte und unter starken Bevölkerungsschwankungen leidende Gesellschaft durch eine Häufung von Missernten und Preissteigerungen an ihrem Lebensnerv. Die frühneuzeitliche Krisenforschung fordert von einer Untersuchung dieser Thematik die Einbeziehung aller verfügbaren Quellengattungen in möglichst großer Breite. Dafür ist die räumliche Einschränkung eine Voraussetzung. Die regional und lokal vergleichende Untersuchung legt den räumlichen Schwerpunkt auf Südwestdeutschland: das evangelische Herzogtum Württemberg und die katholische Fürstpropstei Ellwangen. Die Auswahl folgt der Absicht, in einer territorial fragmentierten Region interkonfessionelle Vergleiche mit konstanten räumlichen Bedingungen zu kombinieren. Der Umgang mit Hungerkatastrophen soll auf den Ebenen der Diskurs-Experten, der politischen Herrschaft wie der Bevölkerung untersucht werden, als Analyse der Alternativen, die magische, religiöse und tendenziell säkulare Deutungskonzepte und Ordnungsbestrebungen boten.

Zeitlich konzentriert sich die Untersuchung auf zwei Bedrohungsphasen: Die „Second Period of Little Ice Age-type Impacts“, die mit der historischen Klimatologie auf ca. 1570–1630 einzugrenzen ist sowie das sog. Maunder-Minimum um ca. 1670–1715. Die Diskurs-Experten (Theologen, Juristen, Ökonomen) werden vor allem in der gedruckten Hinterlassenschaft ihrer Bedrohungskommunikation über den Hunger aufgesucht: Predigten, Traktate, Gutachten, Kirchen-, Landes- und Prozessordnungen. Untersucht wird auch deren Niederschlag im Andachtsbuch, in der Zeitung oder im Flugblatt. Theologische Reaktionen mit Öffentlichkeitswirkung lassen sich über gedruckte Predigten und Frömmigkeitsliteratur maßgeblicher süddeutscher Theologen ermitteln (Universitätsbibliothek Tübingen, Württ. Landesbibliothek Stuttgart, Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Eichstätt u.a.). Historiographische Quellen sind in einem ersten Zugang gut in der Sammlung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart greifbar. Für die exzellente, bislang kaum aufgearbeitete Überlieferung der Fürstpropstei Ellwangen findet man im StA Ludwigsburg geschlossene Bestände vor.

U 2: Die Untersuchung fragt nach der Bedrohung durch Hungerkatastrophen in den Absturzphasen des deutschen Industriekapitalismus. Sie will durch ihre Einbindung in das Langfristprojekt eine Veränderung des FoKus versuchen: Die gesamte bisherige – höchst verdienstvolle – Forschungsgeschichte will auf eklatante Beispiele zunächst langfristig gelingender, dann aber gescheiterter Katastrophenbewältigung angesichts der Hungerbedrohung hinaus. Eine andere, den bisherigen Zugriff erweiternde Perspektive wird gewonnen, wenn man die Phase der Hochindustrialisierung und ihres schwer wiegenden Potentials der Lebensunsicherheit als eine entscheidende Gelenkstelle wertet, in der das Hungerproblem den Zugriff nicht nur auf Bedrohungsfurcht und -bewältigung, sondern auch die Betrachtungsweise von politischer, gesellschaftlicher und religiöser Verantwortung nachhaltig veränderte. Hungerbedrohungen galten der Theologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Ebene a) nicht mehr als transzendente Erziehungsmittel göttlicher Strafzucht, sondern als Aufgabe der Nächstenliebe, die sich in (durchaus umstrittenen) Institutionenbildungen auszuformen habe (Ebene b). Der Charakter des Hungers hatte sich, so die These, gegenüber der Frühen Neuzeit und dem frühen 19. Jahrhundert gewandelt: Er stand nun im Kontext einer allgemeinen Politik-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturkrise, aber er war der innerliche Motor der Bedrohungsangst deshalb, weil er angesichts der technologischen und „menschheitsgeschichtlichen“ Entwicklung nunmehr als irrational, weder zu erklären noch zu rechtfertigen erschien. Die von Zentrums- und Verbandskatholizismus (mit-)kreierte und getragene Sozialpolitik konnte den Grund der Bedrohung nicht mehr in die Transzendenz auslagern; der Konnex von Scheitern und Verantwortung war endgültig inmitten menschlich riskierter Prozesse angekommen. Erst diese neuen Denk- und Handlungsformen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der regionalen auf die nationale Ebene gehoben worden waren, konnten nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs internationalisiert, ja globalisiert werden. U 2 wählt sachbedingt einen anderen Untersuchungsraum: das Ruhrgebiet. Hier finden sich alle Bedingungen für eine „Erfahrungsgeschichte“ der Hungerbedrohung in der Phase der Hochindustrialisierung: Steinkohle und Montanwesen, hohe Arbeitsmigration, Urbanisierung mit ihren Folgen für Lohn-Preis-Gefüge und Nahrung, wirtschaftsgeschichtliche Auswirkungen auch der Kriege 1870/71 und 1914/18, schließlich ein engagierter Sozialkatholizismus in Konkurrenz mit anderen Institutionen.

Untersucht werden: die regional relevanten Stadtarchive, Bistumsarchive, Archive und Bibliotheken christlicher Institutionen, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Dokumentationen der lokalen, regionalen, überregionalen Zentrumspolitik, der Volksverein für das katholische Deutschland, Medienarchive, Kalenderliteratur, graue Literatur. Die einschlägigen Archive, Institutionen und Dokumentationszentren wurden bereits angeschrieben – ausführliche Informationen zu den zu erwartenden Materialien liegen weitgehend vor.

U 3: Nach 1945 übernahm der Hunger eine den Krieg deutlich überwiegende und kaum zu überschätzende Negativrolle im Katastrophengeschehen. Während selbst in benachteiligten Regionen Europas der tödliche Hunger seit etwa 1850 zurückging, trat er wegen des Auseinanderklaffens von Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsversorgung, aber auch durch Naturkatastrophen, Bürger- und Stellvertreterkriege seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Phänomen europäisch-nordatlantischer Bedrohung und Verantwortlichkeit in ein neues Stadium des Bewusstseins, nun allerdings außerhalb der eigenen Gesellschaft. Das Bedrohungsszenario, das von diesen weltweit medialisierten Hungerkatastrophen ausging, hat sich freilich zwischen ca. 1960 und ca. 1980 erheblich verändert: Die späten 1950er und die 1960er Jahre fürchteten zwei Entwicklungen: eine Ausweitung des kommunistischen Einflusses auf die Länder der nun erstmals sog. „Dritten Welt“ oder aber einen Aufstand der technisch und wirtschaftlich unterlegenen, zahlenmäßig aber kaum beherrschbaren Menschenmassen der südlichen Hemisphäre als „Ursache zu Aufruhr und Krieg“. Von der „Macht der modernen Technik“ wurde im Rahmen der Modernisierungstheorie eine Wiederholung westlicher Wirtschaftsentwicklung erwartet. In den 1970er Jahren hingegen standen Ängste vor der Weltüberbevölkerung und vor einem ökonomisch-ökologischen Kollaps bzw. einem globalen Kampf um sich dramatisch verknappende Rohstoff-Ressourcen an erster Stelle.

Dieser makroökonomische Prozess wurde – außer von seinen unmittelbaren Teilnehmern – bislang nie auf den hier interessierenden Zusammenhang von Bedrohungen durch Hungerkatastrophen mit religiösen und religiös induzierten gesellschaftlichen Bewältigungs- und Ordnungsanstrengungen befragt. Die Zusammenhänge von Kaltem Krieg und heißen Stellvertreterkriegen, von Bevölkerungsentwicklung und Umweltverbrauch, von Hunger, Macht und Geld in internationalen Wirtschaftskreisläufen, setzte in den 1960/70er Jahren ein enormes Empörungs- und Protestpotential frei, das mit veränderten christlichen Weltdeutungen und Wertmaßstäben vor allem in die europäische und amerikanische Innenpolitik drängte. Eine Aufarbeitung dieser ökonomisch-ökologischen, kulturellen und religiösen Bedrohungsdiskurse kann zunächst nur exemplarisch erfolgen. U 3 zielt auf die Bewältigungskonflikte in Kernmilieus des deutschen Katholizismus. Theologische Neubestimmungen seit dem II. Vatikanischen Konzil wiesen drängend auf den Weg „solidarischen Handelns“, freilich um den Preis harter Ordnungskonkurrenzen insbesondere zwischen den Generationen (Ebene a). Damit verbunden setzte ein Professionalisierungsschub der kirchlichen Entwicklungsarbeit ein (Ebene b), der bei stark steigender Beteiligung Ehrenamtlicher gleichzeitig große neue kirchliche Berufsfelder in den Entwicklungsdiensten bei Misereor, Adveniat, Missio oder in der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) entstehen ließ.

Im Mittelpunkt steht die Arbeit katholischer Jugendgruppen und Verbände in kirchengebundenen Milieus der 1960er/70er Jahre. Auch für diese Untersuchung wurden viel versprechende Material-Vorstudien bereits erfolgreich vorangetrieben (Medien-Archive, Archive des BDKJ und der Jugendverbände, insbes. Dokumentationsstelle Hardehausen und Jugendhaus Düsseldorf, der Hilfswerke, Flug- und Zeitschriften etc.), aber auch Rezeption und Bearbeitung des Themas im „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ (Archiv des ZdK). Interviews mit Zeitzeugen werden eine wesentliche Rolle spielen. In der Langfristperspektive des Teilprojekts wird diese Untersuchung zeigen, wie – trotz der Professionalisierung religiös induzierten Bewältigungshandelns – die schleichende Säkularisierung des Problemzusammenhangs von Hungerkatastrophe und Religion im 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer Re-Theologisierung (kurzfristig) geradezu rückgängig gemacht wurde.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Riese, Christina, Schmidt, Jürgen Michael, Stollhof, Johannes

Riese, Christina

Schmidt, Jürgen Michael

Stollhof, Johannes

Tagungen, Workshops, Konferenzen

Kinder-Uni