Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Den Krieg vom Frieden her denken. Einblick in das Ethik-in-der-Praxis-Seminar

von Cora Bieß & Marcel Vondermaßen

02.05.2023 · Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben Fragen rund um Krieg, Konflikt und Frieden neue Bedeutung erhalten.  Dies zeigt sich auch an den Debatten in Deutschland. Doch die Debatte verbleibt oft auf der Oberfläche. Daher war es Anliegen des Seminars „Den Krieg vom Frieden her denken“ im Wintersemester 2022/2023 mit Rückgriff auf politikwissenschaftliche und philosophische Texten einen differenzierteren Blick auf das Thema zu werfen: Welche Formen von Gewalt gibt es? Was unterscheidet Krieg von „slow violence“? Was ist echter Frieden? Kann Pazifismus unmoralisch sein? Was bedeutet es, den Krieg vom Frieden her zu denken? Ziel des Seminars war es, Studierenden ein Instrumentarium vorzustellen, das einen klareren Blick auf die komplexen Lagen von Krieg, Konflikt und Frieden ermöglicht.

Frieden, das haben wir in unserem Seminar erarbeitet, ist ein voraussetzungsvolles Ideal. Der Weg zu mehr Frieden ist ein stetiger, fragiler Prozess. Dennoch kann jede*r im eigenen Umfeld sich für ein friedlicheres Miteinander einsetzen, denn Friedensarbeit beginnt im täglichen Umgang miteinander. Aufbauend auf diesem Grundgedanken galt unser erstes Augenmerk einer vertrauensvollen Atmosphäre im Seminar. Wir wollten mit freundlichem Umgang, respektvollen Diskussionen und zugewandter Offenheit einen Raum schaffen, in dem sich alle Teilnehmenden sicher genug fühlen , um über Themen wie Krieg und Gewalt zu sprechen. Denn Berichte über Kriege und Gewalt, die wir in unseren gemeinsamen Raum im Seminar zum Thema machen wollten, können die Teilnehmenden auf verschiedene Arten und Weisen berühren. Durch die Befassung mit dem Thema hier, aber auch in den Vorbereitungsaufgaben, waren die Auswirkungen und Folgen von Krieg und Gewalt für die Studierenden auf unterschiedlichen Ebenen über viele Wochen sehr präsent. Manche mögen zudem eigene Vorerfahrungen mit Krieg oder Gewalt gemacht haben, andere wiederum haben mitunter Angehörige, die von Krieg oder Gewalterfahrungen betroffen waren oder sind. Bei anderen mag es intergenerationale Traumata geben oder auch ohne solche Vorerfahrungen kann die Befassung mit diesen Themen belastend wirken. Daher war es uns ein besonderes Anliegen, dass sich alle bewusst sind, was dies mit uns als einzelne Person, aber auch als Gruppe macht. Zu diesem Zweck haben wir zu Beginn einen Austausch darüber geführt, mit welchen Leitlinien und Gesprächsregeln wir diesen Safe Space schaffen können. 

Neben dieser Einführung eröffneten wir jede Seminarsitzung mit dem Punkt „Geschichten der Woche“. Hier eröffneten wir einen Austauschraum, um über jene medialen Diskurse zu sprechen, die die Teilnehmenden in der vergangenen Woche besonders beschäftigten. Die dort vorgetragenen Themen reichten von aktuellen weltpolitischen Ereignissen bis hin zu Erlebnissen mit rassistischen Äußerungen in persönlichen Alltagserfahrungen. Was auch deutlich wurde: Der Ukraine-Krieg war zwar dominant, doch unter den Seminarteilnehmenden waren auch andere Konflikte, Kriege oder gewaltsame Ereignisse sehr präsent.

Inhaltlicher Aufbau des Seminars:

Unser Ziel war es, durch erfahrungsbasiertes Lernen partizipative und selbstgesteuerte (dialogorientierte) Lern-und Gruppenprozesse zu initiieren. Die Vermittlung der Inhalte sollte durch Methodenvielfalt möglichst interaktiv und abwechslungsreich gestaltet werden. Dabei wurde der Aufbau auch durch die Zusammensetzung der Teilnehmenden mitbestimmt:

Da die Teilnehmenden am Seminar zwar insofern eine homogene Gruppe darstellten, dass sie alle angehende Lehrer*innen waren, aber eine große Vielfalt in den studierten Fächern aufwiesen, folgte unser Seminaraufbau dem Grundgedanken zuerst eine gemeinsame theoretische Basis zu schaffen: In der ersten Hälfte des Seminars sind wir in theoretische Verständnisse über Krieg, Gewalt, Konflikt, Macht und Frieden eingetaucht. Darauf aufbauend folgte eine Sitzung zum moralischen Argumentieren, die wir als Grundlage für ein Planspiel nutzten, in dem die Studierenden internationale Verhandlungen simulierten. Daran anknüpfend führten wir eine angeleitete Debattendiskussion zum Thema „Waffenlieferung“ durch. Hier war es die Aufgabe der Studierenden in Kleingruppen mögliche Argumente für die jeweiligen Standpunkte „stimme nicht zu“, „stimme nicht zu mit Ausnahmen“, „stimme zu mit Einschränkungen“ und „stimme zu“ auf den Grundlagen des moralischen Argumentierens vorzubereiten. Ziel dabei war es, den Teilnehmenden über Argumentationstheorie und praktische Übungen zu einem besseren Verständnis der Rhetorik, der Zwänge und Möglichkeiten politischer Debatten zu verhelfen. Die Studierendensollten somit einerseits in die Lage versetzt werden, Argumente besser zu analysieren, aber auch verstehen, dass Argumente immer in einem Kontext wirken und Interessenpolitik schnell zu komplexen Situationen führen kann.

In der zweiten Hälfte des Seminars thematisierten wir differenzierte Perspektiven auf Krieg und Frieden und reflektierten, in welchen Öffentlichkeiten die Repräsentation von Krieg gegenwärtig ist. Die New York Times titelte, dass die Ukraine zum ersten "Tiktok-Krieg" der Welt wurde - doch welche Auswirkungen hat Social Media auf die Kriegsberichterstattung? Am Beispiel der Repräsentation des Ukrainekriegs auf TikTok reflektierten wir die Auswirkungen durch die veränderten Nähe-Distanz-Verhältnisse. Was bedeutet folglich Konfliktsensibilität in der Onlinekommunikation? Da alle Studierenden im Lehramtsstudium verortet waren, war es uns ein Anliegen immer wieder einen Praxistransfer herzustellen und gemeinsam zu überlegen, wie sie in der Rolle als zukünftige Lehrkräfte die Seminarinhalte vermitteln könnten, oder zu welchen Themen und gegenwärtigen Phänomenen es besondere Sensibilität im Klassenzimmer bedarf. Am Beispiel von Deepfakes als Kriegs- und Propagandawaffe schauten wir uns anschließend an, welchen Einfluss Desinformation und Propaganda in Diskursen rund um das Thema Krieg haben kann. In einer Sitzung thematisierten wir deshalb die Analyse der Kriegspropaganda, die von Lord Arthur Ponsonby nach dem Ersten Weltkrieg verfasst wurden. Hierbei verglichen wir Zitate und Statements von Politiker*innen im Ersten Weltkrieg mit Aussagen von heute. Dabei wurden Parallelen in der Argumentation und Kommunikation über Krieg erkennbar.

Im letzten Teil des Seminars legten wir den Schwerpunkt auf kooperative Konfliktbearbeitung. Die Studierenden erhielten die Aufgabe zu recherchieren, welche Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung bereits seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs Anwendung fanden, und wie darüber im Diskurs gesprochen wurde. Ihre Erfahrung war: es wurden bereits verschiedene Instrumente eingesetzt, jedoch mussten sie lange danach recherchieren. Die mediale Aufmerksamkeit auf zivile Instrumente der Konfliktbearbeitung fiel eher gering aus, es dominierten Diskussionen um Waffenlieferungen, verschiedene Waffengattungen und Berichte über Kriegsereignisse.

Anschließend an diese Sitzung gab Prof. Dr. Hanne Margret Birckenbach einen Gastvortrag zum Thema Friedenslogik. Eine differenzierte und strukturierte Diskussionsrunde ergab sich aus den in der Vorbereitung von Studierenden ausgearbeiteten Fragen und Kommentaren zu Frau Birkenbachs Artikel „Verhandlungen zur Kriegsbeendigung. Kluge Verhandlungsprozesse schützen und unterstützen“  In den letzten beiden Sitzungen wendeten wir eine Konfliktanalyse-Methode an, wobei die Studierenden verschiedene Stufen einer Konflikteskalation auf unterschiedliche Konflikte übertrugen. Davon ausgehend war es unser Anliegen, die Studierenden zu ermutigen, in Kleingruppen zu reflektieren, welche Formen und Möglichkeiten sie für junge Menschen sehen, sich in ihren Kontexten für Frieden einzusetzen. Denn uns ging es darum, Frieden als komplexen Begriff der Gewaltreduktion zu verstehen, der nicht linear abläuft und auf unterschiedlichen Ebenen im Wechselspiel zwischen verschiedenen Akteur*innen und Handlungen gestärkt werden kann.

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