Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Martha Mazanek:Flucht & Architektur: Eine Bauweise für Heimatgefühle von Geflüchteten in Tübingens Weststadt. Oder: Eine Kleinsiedlung als menschenwürdige Unterkunft für Geflüchtete und andere marginalisierte Gruppen

Erstbetreuer: Prof. Reinhard Johler

In den 1980er Jahren manifestierte sich die „Strategie der Abschreckung“ der deutschen Asylpolitik in Tübingen in der Sammelunterkunft Thiepval-Kaserne. Der historisch bedeutungsvolle wie auch äußerlich prachtvolle Bau wurde nach vorwiegend militärischer Nutzung im Jahr 1981 zum Sammellager für Asylsuchende und somit zur Unterkunft für zeitweise mehr als 400 Menschen aus mindestens 25 Ländern*. Die Bedingungen, unter denen die Menschen in der Thiepval-Kaserne zu leben hatten, waren für die im „Freundeskreis für Flüchtlinge“ organisierte engagierte Bürgerschaft dermaßen besorgniserregend, dass sie ein Gutachten über die Zustände und deren Folgen in Auftrag gab. Im Zuge einer Befragung der Aylbewerber*innen durch Psycholog*innen wurden die katastrophalen Wohnbedingungen und die daraus hervorgehenden psychischen Belastungen dokumentiert und so der direkte Zusammenhang der Unterbringung mit den Konsequenzen von Depression, Kriminalität und Alkoholismus aufgewiesen.

Nachdem 1989 schließlich die Thiepval-Kaserne zur Unterkunft für deutsche Spätaussiedler

renoviert und umfunktioniert wurde, stand Tübingen erneut vor der Herausforderung die vom Land vorgegebenen Zahlen zur Unterbringung von – nun vorwiegend aufgrund der Jugoslawien-Kriege – geflüchteten Menschen zu erfüllen.

Im Gegensatz zu den als inhuman ausgelegten Wohnbedingungen der Thiepval-Kaserne war es nun ein Anliegen des Gemeinderats für „menschenwürdiges Wohnen“ für Geflüchtete zu sorgen, indem menschliche Bedürfnisse vorwiegend mittels der Architektur be- und geachtet wurden. Die Lektion aus der Thiepval-Kaserne führte dazu, dass – nach zahlreichen Widerständen aus der Bevölkerung bei der Auswahl des Standortes – in der Tübinger Weststadt eine kleine Holzhaussiedlung errichtet wurde. Entworfen von dem der direkten Partizipation sowie dem Bauen für nicht privilegierte Bevölkerungsgruppen zugeneigten Architekten Peter Hübner, bildet die Siedlung bestehend aus 16 doppelstöckigen Holzhäusern ein bahnbrechendes Modell für die Unterbringung von Geflüchteten. Geplant für sieben Jahre, steht sie bis heute und beherbergt Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt sowie hiesige Obdachlose. 

Welchen Einfluss diese besondere Form der Unterbringung von Geflüchteten auf deren Lebenswelten und Perspektiven hat und wie die Beschaffenheit der Siedlung die einzelnen Gruppen sowie die Gemeinschaft beeinflusst und strukturiert steht im Mittelpunkt dieser Forschung, die ihren Ursprung in dem Seminar „Dörfle Weststadt. Eine Tübinger Heimatgeschichte von Geflüchteten.“ findet, in dem bereits erste Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Aber auch der Prozess hin zur Entstehung dieser besonderen Wohnform soll näher beleuchtet und vertieft werden: Wie kam es dazu, dass der Wert „Menschliche Würde“ wegweisend für die Kommune bei der architektonischen Planung von Geflüchtetenunterkünften wurde und wie wurde dieser Begriff auf der politischen und zivilen Ebene verstanden und verhandelt. Letztlich wirft der Blick auf die Geschichte des sogenannten Dörfles auch die Frage auf, welche Schlüsse man daraus für aktuelle und zukünftige Fragen rund um die Unterbringung von Menschen in Not ziehen könnte.

* Quelle

Kurzbiografie:

Martha Mazanek, Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Philosophie 2006-2012 (Magister), Studium der Erziehungswissenschaft 2015-2017 (B.A.). Seit 2015 Angestellte der Universitätsstadt Tübingen.