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Johann Valentin Andreae (1586–1654):

Gesellschafts- und Kirchenkritische Schriften

Der 1586 in Herrenberg geborene, vielseitig interessierte Theologe, Schriftsteller und Utopist Johann Valentin Andreae gehört zweifellos zu den einflussreichsten und faszinierendsten Persönlichkeiten des Barockzeitalters. Der offenbar hochbegabte Jüngling begann schon als Fünfzehnjähriger in Tübingen das Studium der Freien Künste, das er 1605 mit dem Magisterexamen abschloss. Seine anschließend aufgenommenen Studien der Mathematik und Theologie musste er jedoch wegen eines Skandals schon 1607 ohne Abschluss beenden. In seiner Tübinger Zeit schloss Andreae Freundschaft mit einem Kreis theosophisch interessierter Gelehrter um die Juristen Tobias Heß und Christoph Besold, unter denen sich auch sein späterer Straßburger Verleger Lazarus Zetzner befand. Aus diesem Zirkel ging unter maßgeblicher Beteiligung Andreaes die mystisch-spirituelle Reformbewegung des Rosenkreuzertums hervor, zu welcher der junge Andreae mit dem anonym erschienenen Initiationsroman „Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz anno 1459“ eine der Grundlagenschriften beisteuerte. Nach einigen Jahren als Hauslehrer und Hofmeister konnte er 1612–1614 am Tübinger Stift das begonnene Theologiestudium abschließen und war zunächst als zweiter Stadtpfarrer in Vaihingen an der Enz, ab 1620 als Superintendent in Calw tätig. Als die Stadt 1634 von kaiserlichen Truppen geplündert und gebrandschatzt wurde, verlor Andreae seinen gesamten Besitz, darunter seine umfangreiche Bibliothek. Den nunmehr mittellosen Theologen ernannte Herzog Eberhard III. im Jahre 1638 zum Hofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart, von wo aus er nicht nur das Schulwesen und Theologiestudium in Württemberg reorganisierte, sondern auch selbst 1641 an der Universität Tübingen zum Doktor der Theologie promoviert wurde. 1646 wurde Andreae auf Empfehlung des Herzogs August von Braunschweig-Wolfenbüttel, mit dem er seit Jahren in regem Austausch stand, unter dem Gesellschaftsnamen „Der Mürbe“ in die Fruchtbringende Gesellschaft, die größte deutsche Sprachakademie des Barock, aufgenommen. Da der württembergische Adel und die lutherische Geistlichkeit des Herzogtums seinen weitgespannten kirchlichen und sozialen Reformplänen ablehnend gegenüberstanden, nahm er 1650 seinen Abschied in Stuttgart und leitete als Generalsuperintendent die Klosterschule in Bebenhausen. Johann Valentin Andreae starb 1654 in Stuttgart.

Die Erforschung seines umfangreichen Werkes, in dem sich mystisch-theosophische, sozialreformerische, utopische und theologische Aspekte zu einem vielfältigen Ganzen verbinden, erfährt seit mehreren Jahrzehnten verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Neben den zunächst hauptsächlich interessierenden Rosenkreuzertexten sind hier vor allem die seit 1994 erscheinende kritische Gesamtausgabe aller Werke (FU Berlin, W. Schmidt-Biggemann, B. Roling) und die Erschließung seiner über 5.000 Briefe umfassenden Korrespondenz (HAB Wolfenbüttel, S. Salvadori) zu nennen.

Die im vorliegenden Druck zusammengebundenen drei Werke Andreaes gehören zu seinen wichtigsten gesellschafts- und kirchenkritischen bzw. sozialutopischen Texten. In ihrer inhaltlichen, vermutlich vom unbekannten ersten Besitzer bewusst gewählten Abfolge reichen sie gleichsam von der herben Kritik des Weltlebens bis zum idealen christlichen Staat, der die verderbte Welt auf dem Wege zum Reich Gottes zu überwinden vermag. Obwohl sich die erste Schrift als ein in „Utopia“ verlegter Druck präsentiert, zeigen Type und Format, dass alle drei Schriften in der Offizin von Andreaes Jugendfreund Lazarus Zetzner in Straßburg publiziert worden sind.
Zu Beginn zeichnet der anonym bleibende Verfasser die „Irrwege eines Fremden in der Heimat“ (Peregrini in patria errores) nach. Ein namenloser junger Mann bereist allein, nur vom „Impetus“ getrieben, auf der Suche nach dem höchsten Gut vier Regionen der Welt, die den Lesenden in eigens beigegebenen Diagrammen erläutert werden. Der Reisende findet dort jedoch nur Hässliches, Lasterhaftes, Unnützes und Sinnloses vor. An der allgemeinen und unentrinnbaren Nichtigkeit dieser gegenwärtigen Welt verzweifelnd vertraut sich der irrende Pilger schließlich in inbrünstigem Gebet Gott an, der ihn allein zu erlösen vermag.

Der zweite enthaltene Text, „Der christliche Bürger oder die Wiederherstellungen des einstmals irrenden Pilgers“ (Civis Christianus sive peregrini quondam errantis restitutiones) präsentiert sich bereits im Titel zugleich als Fortsetzung und Gegenstück des vorhergehenden Werkes. In der Vorrede gibt sich Andreae entgegen seiner sonstigen Gewohnheit namentlich als Autor zu erkennen. Der junge Pilger wird nunmehr von einer Erscheinung in den mystischen „Tempel des Herzens“ geleitet und durchschreitet in einer Art von Meditation auf dem Weg zur Erlösung verschiedene Stationen in einer allegorischen Landschaft. Sie sind wie im ersten Text als Diagramme schematisch nachvollziehbar und bieten dem Verfasser auch die Gelegenheit, die weltliche und christliche Ordnung einander gegenüberzustellen und ihr Verhältnis kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren.

Als dritter Druck findet sich schließlich die wiederum anonym verlegte „Beschreibung von Christianopolis“ (Reipublicae Christianopolitanae Descriptio), die in Form einer fiktiven Reisebeschreibung gehalten ist und Motive der beiden vorhergehenden Werke aufnimmt, kombiniert und ausbaut: Ein Seereisender erleidet im stürmischen Meer der Welt Schiffbruch und strandet an der mythischen Insel Caphar Salama. Auf ihr liegt die christliche Idealstadt Christianopolis, deren Bewohner der staunende Ankömmling mit allen ihren sozialen Lebensformen, Einrichtungen und Eigenarten eingehend schildert und dabei eine detaillierte Utopie einer vollkommenen christlichen Gesellschaft entwirft. Dabei kann sich Andreae auf einflussreiche Vorbilder wie die gattungsprägende Utopia des Thomas Morus oder die Civitas solis von Tommaso Campanella berufen und stützen. Kirchen- und Sozialkritik, Reformeifer und evangelische Frömmigkeit Andreaes weisen in diesen drei Werken dem nach Erlösung suchenden Menschen einen Weg zur wahren Seligkeit im Reich Gottes.

Quellen:

Sammelband, Signatur UB: Dk II 312b
•    [Johann Valentin Andreae], Peregrini In Patria Errores, Utopiae [i.e. Straßburg: Zetznerus], 1618. (VD17 12:101675E)
•    [Johann Valentin Andreae], Civis Christianus, Sive Peregrini Quondam errantis restitutiones, Argentorati : Zetznerus, 1619. (VD17 12:103201R)
•    [Johann Valentin Andreae], Reipublicae Christianopolitanae Descriptio, Argentorati : Zetznerus, 1619. (VD17 12:105664H

Bild:

Johann Valentin Andreae (1586–1654). Kupferstich von Melchior Küsel, vor 1683. Signatur UB: PA.