Juristische Fakultät

23.07.2024

Forum Junge Rechtswissenschaft: „Rechtsfolgen der Unwirksamkeit von AGB in Verbandsklagen nach dem VDuG – Grenzen des individuellen Verbraucherschutzes im kollektiven Rechtsschutz“

Am 23.07.2024 lud das Forum Junge Rechtswissenschaft gemeinsam mit Dr. Christian Rüsing, LL.M., von der Universität Münster zum letzten Vortrag des Semesters ein.

Dr. Christian Rüsing, LL.M., zu den Rechtsfolgen der Unwirksamkeit von AGB in Verbandsklagen nach dem VDuG

Unter dem Titel „Rechtsfolgen der Unwirksamkeit von AGB in Verbandsklagen nach dem VDuG – Grenzen des individuellen Verbraucherschutzes im kollektiven Rechtsschutz“ untersuchte Rüsing, inwiefern die bisherige EuGH-Rechtsprechung zu Rechtsfolgen unwirksamer AGB auf die Verbandsklage übertragen werden könne. Dabei widmete er sich insbesondere der neuen Abhilfeklage nach der EU-Verbandsklagerichtlinie, in Deutschland umgesetzt durch das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG). Ausgehend von aktuellen Fällen wie der Sammelklage gegen die HanseWerk Natur GmbH (anhängig beim OLG Schleswig-Holstein – 5 VKl 1/23) betreffend Preisanpassungsklauseln in Energielieferverträgen diskutierte Rüsing das Spannungsverhältnis zwischen der auf Individualklagen bezogenen EuGH-Rechtsprechung und dem kollektiven Rechtsschutz.

Zunächst stellte Rüsing die Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen unwirksamer AGB in Individualklagen dar. Hierbei analysierte er die Unterschiede zwischen der BGH- und der EuGH-Rechtsprechung sowie zwischen § 306 BGB und den Vorgaben der Klauselrichtlinie. § 306 I BGB gehe bei unwirksamen AGB grundsätzlich von einer Wirksamkeit des Vertrags im Übrigen aus; die Gesamtunwirksamkeit sei gem. § 306 III BGB die Ausnahme. Die entstehenden Lücken würden nach § 306 II BGB mit „gesetzlichen Vorschriften“ geschlossen. An dieser Stelle greife der BGH bislang auch auf die ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zurück.

Der EuGH hingegen erkenne in Bezug auf die Klauselrichtlinie im Grundsatz keine Lückenfüllung mittels dispositiven Rechts an. In der Rechtssache Gupfinger habe der EuGH klargestellt, dass missbräuchliche Klauseln nur ausnahmsweise dann durch dispositives nationales Recht ersetzt werden könnten, wenn andernfalls keine Alternative zur Gesamtnichtigkeit bestünde und die Gesamtnichtigkeit für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte. Allerdings habe der Verbraucher ein Wahlrecht: Er könne sich entweder für die Gesamtnichtigkeit des Vertrags entscheiden oder der (eigentlich nichtigen) Klausel zustimmen. Voraussetzung für dieses Wahlrecht sei nach dem EuGH jedoch ein individueller Hinweis an den Verbraucher durch das nationale Gericht.

Wie aber ist bei fehlendem dispositiven Recht zu verfahren? Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Banca B. müsse das nationale Gericht in diesem Fall „alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen“, um den Verbraucher vor den Nachteilen der Gesamtnichtigkeit zu schützen. Dazu gehöre insbesondere, die Parteien zu Verhandlungen aufzufordern (EuGH v. 25.11.2020, C-269/19). Im praktisch häufigen Fall des Scheiterns dieser Verhandlungen nehme der BGH bislang eine ergänzende Vertragsauslegung vor. Dies lehne der EuGH jedoch ausdrücklich ab: Eine Lückenfüllung könne nicht auf der Grundlage von allgemeinen nationalen Vorschriften erfolgen (EuGH v. 12.10.2023, C-645/22 – Luminor Bank). Offen bleibe, welche weiteren Maßnahmen im Sinne der Banca B.-Rechtsprechung dann ergriffen werden könnten, um Verbraucher vor Nachteilen zu schützen.

Im Anschluss untersuchte Rüsing, ob diese auf Individualklagen bezogene EuGH-Rechtsprechung Verbandsklagen in diesem Bereich unzulässig macht, im Speziellen die auf Geldzahlung gerichtete neue Abhilfeklage nach §§ 14 ff. VDuG. Die Abhilfeklage könne sich auf die Zahlung eines Geldbetrags an namentlich benannte Verbraucher richten; in ihrer praktisch relevantesten Form habe sie jedoch die Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags zum Ziel. Möchte man die dargestellte EuGH-Rechtsprechung auf diese Form der Verbandsklage übertragen, stößt man auf mannigfaltige Schwierigkeiten: Wie soll den Verbrauchern der Hinweis bezüglich der Ausübung ihres Wahlrechts zwischen Gesamtnichtigkeit und Aufrechterhaltung der nichtigen Klausel erteilt werden? Wie sollen die Verbraucher von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen? Wie sollen Verhandlungen zwischen dem Unternehmer und den Verbrauchern stattfinden?

Angesichts dieser Probleme stellte Rüsing die Frage, ob Abhilfeklagen im Bereich der EuGH-Rechtsprechung nunmehr ausgeschlossen sind. Schließlich setze die Abhilfeklage nach § 15 VDuG voraus, dass die betroffenen Ansprüche der Verbraucher im Wesentlichen gleichartig seien. An dieser Gleichartigkeit könne es fehlen, da die EuGH-Rechtsprechung auf individuelle Faktoren abstelle – wie beispielsweise auf das Wahlrecht des Verbrauchers zwischen Gesamtnichtigkeit des Vertrags und Aufrechterhaltung der nichtigen Klausel. Vor dem Hintergrund von Erwägungsgrund 12 der Verbandsklagerichtlinie sei für die Frage der Gleichartigkeit allerdings nur entscheidend, ob das Gericht die Ansprüche „im Wesentlichen“ ohne individuelle Prüfungen beurteilen könne. Das ist nach Ansicht Rüsings der Fall – wenngleich die EuGH-Rechtsprechung dafür teilweise modifiziert werden müsse.

Zunächst widmete sich Rüsing dem Wahlrecht der Verbraucher. Dort stelle sich die Frage, ob ein Hinweis gegenüber jedem einzelnen Verbraucher erfolgen müsse. Jüngst habe der EuGH die Notwendigkeit eines „individuellen“ Hinweises gegenüber jedem Verbraucher verneint, wenngleich in einer nicht eins zu eins übertragbaren Rechtssache. Vor diesem Hintergrund könnten die Interessen der Verbraucher hinreichend dadurch gewahrt werden, dass der Verband sie über einen gerichtlichen Hinweis informiert. Bezüglich der Ausübung des Wahlrechts durch die Verbraucher unterschied Rüsing zwischen der Zustimmung zur nichtigen Klausel auf der einen und der Entscheidung für oder gegen die Gesamtnichtigkeit des Vertrags auf der anderen Seite. Eine Zustimmung zur nichtigen Klausel komme von vornherein nicht in Betracht, da die Verbraucher mit der Verbandsklage gerade deutlich machten, der Klausel nicht zustimmen zu wollen. In Bezug auf die Entscheidung für oder gegen die Gesamtnichtigkeit des Vertrags vertrat Rüsing die Ansicht, dass diese Entscheidung gar nicht vor Urteilserlass getroffen werden müsse. Er schlug daher vor, die Entscheidung einem späteren Verfahrensabschnitt der Abhilfeklage, dem Umsetzungsverfahren, vorzubehalten: Hier könne der Sachwalter gem. § 27 Nr. 5 VDuG „ergänzende Erklärungen der Verbraucher“ einfordern, worunter auch Erklärungen zur Gesamtnichtigkeit fallen könnten.

Problematisch gestalte sich ferner die Durchführung von Verhandlungen zwischen den Parteien im Fall fehlenden dispositiven Rechts. Müssen die Verhandlungen in Verbandsklagen mit jedem Verbraucher individuell geführt werden oder kann auch der Verband für die Verbraucher verhandeln? Letzteres bereite Schwierigkeiten, da dem Verband die materiell-rechtliche Vertretungsmacht für Vertragsänderungen fehle. Rüsing wies allerdings darauf hin, dass Verhandlungen nach der EuGH-Rechtsprechung nicht zwingend erforderlich seien, sondern lediglich eine mögliche Lösung für das Problem fehlenden dispositiven Rechts darstellten.

Als weitere Maßnahme zum Schutz der Verbraucher im Sinne der Banca B.-Rechtsprechung schlug Rüsing die ergänzende Vertragsauslegung vor, die mit der Verbandsklage wieder ins Spiel gebracht werden könnte. So könnte sich die Verbandsklage als Chance für die Zukunft der ergänzenden Vertragsauslegung auf europäischer Ebene erweisen. Wünschenswert sei diesbezüglich eine BGH-Vorlage an den EuGH. Der BGH könnte dann erklären, dass die ergänzende Vertragsauslegung es ermögliche, abstrakte Vorgaben für alle Verbraucheransprüche zu entwickeln. Rüsing meinte, dass dabei aber dann auch die Interessen der Klauselverwender Berücksichtigung finden müssten; eine ausschließliche Fokussierung auf Verbraucherinteressen sei mit Blick auf Art. 16 EU-Grundrechtecharta unverhältnismäßig.

Abschließend warnte Rüsing davor, das materielle Recht zu sehr vom Individualprozess her zu denken. Vor dem Hintergrund von Individualklagen entwickelte materiell-rechtliche Lösungen – wie für die Rechtsfolgen unwirksamer AGB – sollten vor allem mit Blick auf Verbandsklagen überdacht werden.

 

Text: Karin Arnold 

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