11.12.2024
Herbstsitzung der Juristischen Gesellschaft Tübingen
`Sylt´- arbeitsrechtlich betrachtet – Außerdienstliches (Fehl-)Verhalten als Kündigungsgrund?
Am 7. November lud die Juristische Gesellschaft zur Herbstsitzung, in deren Rahmen Prof. Picker referierte, in den Großen Senat der Neuen Aula. Im Rahmen der Mitgliederversammlung warfen die Vorstandsmitglieder zunächst einen Blick auf die Fakultät, unter anderem stellte Dekanin Prof. Osterloh-Konrad in diesem Zuge gemeinsam mit Herrn Dr. Singer die Kooperation der Fakultät mit dem OLG Stuttgart vor. Anschließend folgte der Vortrag von Prof. Christian Picker. Unter dem Titel „`Sylt´- arbeitsrechtlich betrachtet – Außerdienstliches (Fehl-)Verhalten als Kündigungsgrund?“ referierte er zu den Geschehnissen auf der Nordseeinsel am Pfingstwochenende 2024, die die Frage nach der Zulässigkeit von Kündigungen aufgrund privaten (Fehl-)Verhaltens aufwarfen. Zunächst umriss Picker die „dunklen Ereignisse“, die sich im Mai in einem Nobelclub auf Sylt zugetragen hatten: Eine Gruppe junger Partygäste grölte zur Melodie des Hits „L´Amour toujours“ heiter „Ausländer raus, Ausländer raus – Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Ein Teilnehmer formte dabei mit seinem Finger einen Oberlippenbart und deutete einen Hitlergruß an. Diese Szenerie wurde von einem Teilnehmer gefilmt und in einen privaten Gruppenchat geschickt. Von dort aus gelangte das Video auf unbekannte Weise in die sozialen Netzwerke und ging dort „viral“. Allerdings blieb es nicht bei Empörung und Entsetzen: Durch Veröffentlichung von Bildern und (Vor-)Namen der Teilnehmer gelang es Usern in kürzester Zeit, diese zu identifizieren und auf den sozialen Netzwerken ausfindig zu machen. Auch die Arbeitgeber der Handelnden wurden ermittelt und öffentlich an den Pranger gestellt, worauf diese mit außerordentlichen fristlosen Kündigungen gegenüber den durch das Video bekannt gewordenen Arbeitnehmern reagierten. Anschließend diskutierte er, ob die den Teilnehmern ausgesprochenen Kündigungen als rechtmäßig angesehen werden könnten. In Betracht käme eine soziale Rechtfertigung aus verhaltensbedingten Gründen nach § 1 Abs. 2 KSchG, wenn die Feiernden durch ihr Verhalten eine aus dem Arbeitsvertrag erwachsende Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB verletzt hätten. Grundsätzlich sei das private Verhalten des Arbeitnehmers der Kontrolle des Dienstgebers entzogen. Eine Ausnahme sei in eng begrenzten Fällen zulässig, wenn das außerdienstliche Verhalten des Arbeitnehmers negative Auswirkungen auf den Betrieb, einen Bezug zu seinen arbeitsvertraglichen Verpflichtungen oder zu seiner Tätigkeit habe und dadurch berechtigte Interessen des Arbeitgebers oder anderer Arbeitnehmer verletzt würden. Eingehend diskutierte Picker, ob und inwieweit ein Bezug zum Arbeitgeber auch im Nachhinein durch Dritte hergestellt werden könne. Picker verneinte einen dienstlichen Bezug bei den Feiernden auf Sylt. Insbesondere sei es diesen nicht zuzurechnen, dass die Öffentlichkeit ihre Arbeitgeber aufgrund rechtswidriger medialer Berichterstattung ausfindig machen und so erst mittelbar einen Bezug zu ihnen herstellen würde. Die Kündigungen erachtete der Referent deshalb für sozial ungerechtfertigt und damit für rechtswidrig. Funktion des Arbeitsrechts sei der entpolitisierte Schutz der Arbeitnehmer; entsprechend habe es auch und gerade deren private Lebensführungsfreiheit und Meinungsfreiheit zu schützen. Daher dürfe das Kündigungsrecht des privaten Arbeitgebers nicht dazu dienen, unmoralisches und/oder politisch abstoßendes privates Verhalten des Arbeitnehmers zu sanktionieren und diesen so zu disziplinieren. Im Anschluss an den Vortrag diskutierte das begeisterte Publikum angeregt mit dem Referenten.
Victoria Schwarzer