21.11.2024
Einblicke in die Rechtspraxis im Jahr 1808
Am 21. und 22. November 2024 lud Prof. Stephan Dusil Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen zu der interdisziplinären Tagung über die Tübinger Konsilien unter dem Titel „Rechtsrat im Sommer 1808“ ein.
Bereits kurz nach Gründung der Universität Tübingen im Jahr 1477 traten sowohl Gerichte als auch Private an die juristische Fakultät mit der Bitte um die Erstellung von Gutachten (Konsilien) heran. Nahezu vollständig sind die Abschriften dieser Konsilien im Universitätsarchiv Tübingen für den Zeitraum von Anfang des 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts überliefert. Dusil und sein Lehrstuhl-Team hatten zur Vorbereitung der Tagung den Band des Sommerdekanats 1808 zur Hand genommen und die in ihm enthaltenen 35 Konsilien mithilfe des KI-basierten Programms „Transkribus“ transkribiert. In diesen Gutachten wurden die juristischen Probleme um eine Vielzahl von Alltagssituationen lebendig: eine Truppenaushebung in Kirchentellinsfurt und die Rückerstattung von Kosten für die Stellung eines Ersatzmanns; eine uneheliche Geburt nahe Heilbronn, verbunden mit der Frage nach Ersatz von Unterhalt und Zahlung einer Dotation; sowie ein Einbruchsdiebstahl im Schloss Kirchheim (unter Teck) und die Frage, wie man dem Friseur die Tat nachweisen konnte.
Am Beispiel dieser 35 transkribierten Gutachten eruierten die Referentinnen und Referenten der Tagung das Potential dieser Quellen für das jeweilige Fachgebiet. So unterstrich die Landeshistorikerin Sigrid Hirbodian aus Tübingen die Bedeutung der Konsilien zur Erforschung der württembergischen Geschichte. Auf einzigartige Weise gäben die Konsilien Auskunft darüber, wie sich die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen in Württemberg um 1800 auf die einfache Bevölkerung ausgewirkt hätten. Die Neustrukturierung des Staats Württemberg, verbunden mit den Feldzügen Napoleons, hinterließen nämlich deutliche Spuren im Alltag: requirierte Pferde, unbezahlte Brotrechnungen und andauernde Aushebungen neuer Truppen bilden ein Grundrauschen der Konsilien. Dies zeigte auch Michaela Hohkamp aus Hannover: Die Gerichtsschöffen aus Solms (Hessen) beanspruchten mit der Auflösung der Klosterherrschaft eine Verringerung der Zehntabgaben – die „Sattelzeit“ (1750–1850) war also auch für den „einfachen Mann“ spürbar. Die Konsilien sind aber auch strafrechtshistorisch von Bedeutung, wie Martin Asholt (Bielefeld) zeigte. Zwar beherrschte Anfang des 19. Jahrhunderts die Generalprävention als Strafzweck die juristische Debatte, doch war in der Praxis, wie die Tübinger Entscheidungen eindrucksvoll zeigen, auch die Spezialprävention von Bedeutung. Strafe sollte auf den Täter bessernd einwirken. Barbara Aehnlich (Bremen) machte deutlich, dass die Konsilien auch aus linguistischer Perspektive von hohem Interesse sind, bieten sie doch die Möglichkeit, die Entwicklung der Rechtssprache in Tübingen über einen Zeitraum von nahezu 300 Jahren zu untersuchen. Die Sprache der Konsilien stand auch im Referat von Kristof Meding (Tübingen) im Vordergrund, der eine computerbasierte Auswertung der Konsilien vorstellte und zugleich die Schwierigkeiten beschrieb, mit Sprachmodellen, die mit heutigem Deutsch trainiert sind, ältere Texte zu analysieren. Ulrich Falk aus Mannheim, der den Abschlussvortrag übernommen hatte, verortete die Konsilien des Jahres 1808 im Kontext der zeitgenössischen Diskurse über die Konsiliartätigkeit von Jura-Professoren und der Neustrukturierung der Gerichte im Laufe des 19. Jahrhunderts.
Die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer der verschiedenen Disziplinen zeigten sich allesamt begeistert vom wissenschaftlichen Potential der Konsilien. Die beeindruckende Entwicklung der Handschriftenerkennung mittels KI lässt die Transkription bzw. Edition eines größeren Teils der ungefähr 20.000 überlieferten Gutachten in greifbare Nähe rücken. – Ob jedoch der Hoffriseur tatsächlich der Dieb des Schmucks aus dem Schloss Kirchheim (unter Teck) war, konnten auch die Tübinger Jura-Professoren nicht abschließend klären: Da sie den Friseur nicht mehr foltern konnten (und wollten), blieb ihnen nichts Anderes übrig, als ihn nach einer Zuchthausstrafe von 6 Monaten des Landes zu verweisen.
Georg Baumann / Hannah Heidenreich