23.11.2022
,,Robo-Judge“ vs. Aktenberge?
Referate von Prof. Dr. Stefan Huber und Florian Diekmann zur Digitalisierung der Justiz im Rahmen der Herbstsitzung der Juristischen Gesellschaft
Am 15. November fand im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Tübingen die Mitgliederversammlung der Juristischen Gesellschaft Tübingen statt, zu der der Vorsitzende Prof. Hermann Reichold gemeinsam mit dem zweiten Vorsitzenden Reiner Frey die Anwesenden zunächst herzlich begrüßte.
Im Anschluss an die zügige Abarbeitung mehrerer formaler Tagesordnungspunkte folgten spannende Berichte über die Juristische Fakultät und die Juristische Gesellschaft.
Dekan Prof. Jens-Hinrich Binder berichtete über die erfreuliche Rückkehr verschiedener Projekte der Fakultät, die aufgrund der Covid-19-Pandemie leider ruhen mussten. Zu diesen Projekten zählten unter anderem das „Netzwerk Ost-West“ und das „Tübingen Chapel Hill Law Program”.
Mit der Suche nach einem Nachfolger für den zum 1. Oktober emeritierten Prof. Reichold steht die Berufungskommission der Fakultät einer wichtigen Entscheidung gegenüber, welcher Prof. Binder mit Optimismus entgegen blickt.
Aus Perspektive des Dekanats sind die stark angestiegenen Energiepreise eine Herausforderung und Belastung für die gesamte Universität. Um dem entgegenzuwirken, sind mehrere Energiesparmaßnahmen in die Wege geleitet worden.
Prof. Binder schloss seinen Bericht mit einem Hinweis auf die überdurchschnittlichen Ergebnisse der letzten Examenskampagne ab. Die Tübinger Fakultät hat nicht nur den Landesbesten, sondern auch den jüngsten Examenskandidaten ihrer Geschichte hervorgebracht.
Daran anschließend schilderte Prof. Reichold die Erfolge der verschiedenen Veranstaltungen der Juristischen Gesellschaft im letzten Jahr, zu denen unter anderem die Frühjahrssitzung zum Thema „Aufbruch zu einem neuen Arbeitsrecht der katholischen Kirche – Aktuelle Fragen einer Reform der Grundordnung“ gehörte.
Fachthematik „Digitalisierung der Justiz“
Als erster Referent des Abends ergriff Prof. Stefan Huber das Wort. Er gilt nicht zuletzt aufgrund seines Forschungsschwerpunkts im Bereich des Einsatzes digitaler Technik im Zivilverfahrensrecht als Rechtswissenschaftler mit KI-Expertise.
Zunächst konturierte Huber den Digitalisierungsprozess der Justiz in Deutschland. In den vergangenen Jahrzehnten habe eine Entwicklung stattgefunden, die von automatisierten Mahnverfahren bis hin zur elektronischen Akte (,,e-Akte“) im Zivilprozess reiche. Auch Verhandlungen per Videokonferenz seien seit der Corona-Pandemie gang und gäbe.
Aus wissenschaftlicher Sicht hingegen spannender und deshalb vertieft zu betrachten seien sogenannte Entscheidungsvorhersageinstrumente. Hierbei handele es sich um digitale Technologien, die bei der richterlichen Entscheidungsfindung eingesetzt werden und Richter und Richterinnen entlasten könnten.
Einer möglichen Dystopie von Entscheidungen, die allein durch künstliche Intelligenz getroffen würden, müsse allerdings Einhalt geboten werden, stellte Huber fest. In diesem Zusammenhang verwies er in erster Linie auf den verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem sich der Einsatz solcher Tools bewegen müsse: Der Richter müsse gemäß Art. 97 I GG unabhängig sein und sein Urteil auf eine eigenständige Rechtsanwendung zurückführen können.
Diskussionswürdig seien deshalb allein Mittel zur Unterstützung der Rechtsprechung bei der Entscheidungsvorbereitung. Dabei bestehe die Gefahr, dass Richterinnen und Richter sich letztlich von der KI in ihrer Entscheidungsfindung erheblich steuern ließen.
Es gelte daher insbesondere, das Demokratieprinzip, die richterliche Unabhängigkeit und den Anspruch auf rechtliches Gehör mit der Funktionsfähigkeit der Gerichte und dem damit verbundenen Prinzip des effektiven Rechtsschutzes in Einklang zu bringen.
Praktische Umsetzung
Diese theoretischen Grundlagen veranschaulichte Huber anhand des Beispiels eines Algorithmus zur Durchsicht von Schriftsätzen. Ein solcher könnte die wesentlichen Stellen eines Schriftsatztextes ausfindig machen, auf welche sich die Lektüre des Richters theoretisch beschränken könnte.
Jedoch ist ein Richter aufgrund des Grundrechts auf rechtliches Gehör grundsätzlich dazu verpflichtet, den Schriftsatz in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Etwas anderes kann sich laut Huber im Falle von missbräuchlich angelegten, unangemessen langen, unübersichtlichen Schriftsätzen ergeben. Der Experte befürwortete in diesem Zusammenhang die Anwendung eines Zwei-Stufen-Modells. Zunächst bestehe für die einreichende Seite die Obliegenheit zur Nachbesserung des Schriftsatzes. Komme sie dieser Obliegenheit nicht nach, verstößt es Huber zufolge nicht gegen das Recht auf rechtliches Gehör, wenn der Richter mangels Nachbesserung des Schriftsatzes bei dessen Durchsicht durch Künstliche Intelligenz unterstützt wird.
Ein solches Vorgehen könne die Funktionsfähigkeit der Gerichte wahren. Weiter müsse ein Mindestmaß an Erklärbarkeit der KI-Systeme gewährleistet sein. Generell stellten Qualitätskontrollen und entsprechende Zertifizierungen der Technik eine Herausforderung dar, die in der Diskussion um Künstliche Intelligenz nicht außer Acht gelassen werden dürften.
Expertise eines Praktikers
Auf die theoretische Aufbereitung der Diskussion folgte der Beitrag des Präsidenten des Landgerichts Hechingen, Florian Diekmann. Da Hechingen den Titel eines digitalen Justizstandorts trägt, konnte Diekmann aufschlussreiche Ergänzungen aus der Praxis leisten. Er begann mit einem Überblick über die Digitalisierungserfolge in Baden-Württemberg und zog dabei das LG Hechingen als Beispiel heran.
Die Justiz werde bereits durch digitale Mittel in den unterschiedlichsten Formen unterstützt, beispielsweise durch Übersetzungstools zur erleichterten Auswertung fremdsprachiger Beweismittel oder e-Akten, die den Zugriff auf zitierte Urteile vereinfachten. Der mittlerweile eingeführte elektronische Rechtsverkehr erfreue sich in Baden-Württemberg einiger Beliebtheit, es seien bereits ca. 500 000 Eingänge pro Monat zu verzeichnen. Daneben sei eine Pflicht zur e-Aktenführung für das Jahr 2026 geplant.
Diekmann umriss allerdings auch die Problematik mangelnder digitaler Kommunikation mit den Bürgern, für deren Lösung aber bereits die Einrichtung elektronischer Bürgerpostfächer und Versandzentren in der Region geplant seien. Eine besondere Fortschrittlichkeit beweise das LG Hechingen zudem im Rahmen eines Projekts, das den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Aktendurchdringung anhand von linguistischen Modellen betrifft. Wichtig sei dabei, so Diekmann, dass ein sogenannter „proof of concept“ stattfinde, bei dem man feststelle, ob die Umsetzung des Konzepts überhaupt technisch möglich und praxistauglich sei.
Besonderen Wert legte der Landgerichtspräsident darauf hervorzuheben, dass die Entscheidung über einem Fall beim Richter verbleiben müsse. KI-Systeme sollten lediglich als Hilfsmittel zur Entscheidungsvorbereitung dienen und Richterinnen und Richter nicht unerkannt beeinflussen („nudging“). Weiterhin sollte größtmögliche Transparenz geschaffen werden.
Die engagierte Hörerschaft nutzte anschließend rege die Möglichkeit, mit den beiden Referenten in einen Dialog zu treten. Der Zugriff auf e-Akten soll laut Diekmann auch im Homeoffice bereitgestellt werden. Alle waren sich einig, dass die Einsetzung eines Robo-Richters in Form eines HAL 9000 nicht erstrebenswert und auch nicht zu befürchten sei.
Laura Anger/ Victoria Schwarzer
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