Tübinger Arbeitsrechtsgespräch am 28. November 2025
Europäische Entgelttransparenz als Gefahr für die Tarifautonomie
Deutschrechtlich ist das Tarifsystem durch die Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 vor übermäßigem Richterzugriff durch Gleichheitskontrolle vorerst geschützt. Europarechtlich droht indes die Entgelttransparenzrichtlinie 2023/97/EU mit umfassendem Zugriff auf die tarifliche Entgeltfindung und will gar die maßgeblichen Entgeltanknüpfungspunkte definieren. Nach Art. 4 der Richtlinie muss sich jedes Vergütungssystem an vier Kriterien ausrichten: „Kompetenz, Verantwortung, Belastung, Arbeitsbedingungen“. Eine Tarifausnahme oder einen Bewertungsspielraum wie im deutschen Entgelttransparenzgesetz gibt es nicht. Vergütungen sind auf eine richterlich kontrollierbare analytische Arbeitsbewertung verpflichtet. Der Richter kann mehr oder minder freihändig „Gleichwertigkeit“ verfügen, etwa von Verkäuferinnen und Lagerarbeitern (Britischer Rechtsfall „Next“ unter dem Equality Act 2010).
Wir sehen darin eine große Gefahr für das Tarifvertragssystem und untersuchen auf dieser Tagung: Welche Regelungskompetenz hat die Union für Entgeltfragen? Darf die Entgelttransparenzrichtlinie die auch unionsrechtlich geschützte Tarifautonomie beiseite lassen und die Tarifparteien auf Lohnbemessungskriterien verpflichten? Mit welchen Folgen ist zu rechnen; wie werden Unternehmen auf die erheblichen Rechtsrisiken reagieren?