20.12.2024
„Demokratische Krise und Verfassungsrecht als Forschungsprogramm“
Am 5. November referierte Dr. Dominik Rennert, LL.M. (Yale) im Rahmen der Vortragsreihe des Forum Junge Rechtswissenschaft zum Thema „Demokratische Krise und Verfassungsrecht als Forschungsprogramm“. Die Forschung zur demokratischen Krise biete zwei Ansatzpunkte für das öffentliche Recht: Neben ihren Folgen und Auswirkungen könnten auch deren Ursachen erforscht werden.
Hierfür machte der Referent zunächst die Existenz einer demokratischen Krise deutlich. Diese sei unter anderem an den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen und der Wahl in den USA festzumachen. Auch das Phänomen der „negativen Polarisierung“, welches das Ablehnen des anderen politischen Lagers innerhalb der Demokratie bedeute, sei Zeichen einer demokratischen Krise. Die negative Polarisierung nehme seit 1990 in westlichen Demokratien zu und könne auch demokratische Institutionen selbst beschädigen. Negative Polarisierung zeige sich etwa auch, wenn mit undemokratischen Mitteln versucht werde, den Wahlsieg des Gegners zu verhindern. Beispielhaft führte Rennert hierfür die Ereignisse des 6. Januars 2021 in Washington an.
Welche Rolle spielt jedoch das Verfassungsrecht bei negativer Polarisierung? Kann diese überhaupt alleine mit verfassungsrechtlicher Dogmatik erforscht werden? Rennert verlangte hierzu zunächst eine notwendige „Methodenöffnung“ zur Sozial- und Politikwissenschaft. Die Forschung dieser zur Verschiebung der Wählergruppen seit 1970 diene als erster Ansatzpunkt, sich den Ursachen der Krise zu nähern. Ergebnis dieser Forschungen sei unter anderem die geographische Varianz der negativen Polarisierung: Die negative Polarisierung sei in den USA beispielsweise deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Ursache hierfür könnten die unterschiedlichen Sozialstrukturen sein. Der deutsche Sozialstaat, der vor zentralen Lebensrisiken schütze, das hier geltende Verhältniswahlrecht, die Vielzahl an Parteien, das föderale System und die stark ausgeprägte Stellung des öffentlichen Rundfunks könnten als „Gegenmittel“ gegen die negative Polarisierung dienen. Diese Institutionen, die Rennert als „demokratische Infrastrukturen“ bezeichnete, könnten dafür verantwortlich sein, dass die negative Polarisierung in Deutschland weniger stark ausgeprägt sei als in anderen Ländern.
Im Folgenden führte Rennert diese These anhand eines Vergleichs dieser Infrastrukturen im liberalen und am koordinierten Staatsmodell aus: Ersteres sei zum Beispiel im Vereinigten Königreich und den USA vertreten. Hierbei werde für Lösungen sozialer Probleme auf Marktmechanismen vertraut. Diese Grundstruktur finde Ausprägung in sämtlichen Institutionen des Staates. Auch das Mehrheitswahlsystem selbst sei im Prinzip ein Wettbewerbssystem. Schließlich gingen aus der Wahl ein Gewinner und ein Verlierer hervor. Auch das liberale Wirtschaftsmodell setze auf Marktmechanismen und kenne beispielsweise eine Sozialpartnerschaft im deutschen Sinne nicht. Das Mediensystem sei zudem stark von privaten Medienunternehmen geprägt. Dem stehe das koordinierte Modell gegenüber, welches unter anderem in den skandinavischen Ländern und in Deutschland zu finden ist. Prägend sei hier das Verhältniswahlrecht. Das Wettbewerbssystem werde von Koordinationsebenen durchzogen, die die Akteure zu Kooperationen und Verhandlungen zwängen, im politischen System etwa durch Koalitionsregierungen und den Bundesrat, auf ökonomischer Ebene etwa in institutionalisierten Tarifverhandlungen. Zentral sei auch die starke Rolle des öffentlichen Rundfunks.
Aus verfassungsrechtlicher Perspektive sei interessant, wie die verschiedenen Modelle in den Verfassungen der Staaten verankert sind. In den USA fänden durch die First Amendments die Abwehrrechte gegen den Staat starke Ausprägung. Im Grundgesetz hingegen fände das koordinierte Modell Ausprägung durch die institutionellen Garantien, beispielsweise der Parteien nach Art. 21 GG und des öffentlichen Rundfunks in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 GG. Beides sei in den USA hingegen nicht vorstellbar.
Auf Grundlage dieser Ausführungen legte Rennert zunächst die Forschung zur allgemeinen Verschiebung der Wählergruppen seit den 1970er Jahren dar. In der Industriegesellschaft habe sich die Wählerschaft aufgrund der dominierenden ökonomischen Konfliktlinie klar zuordnen lassen: Kernwähler linker Parteien wiesen geringes Einkommen auf, Wähler rechter Parteien hingegen tendenziell ein hohes Einkommen. Mittlerweile sei für die Zuordnung auch der Faktor „Education“ entscheidend. Dementsprechend könnten vier Wählergruppen unterschieden werden: Wähler mit niedrigem Einkommen und niedrigem bzw. hohem Bildungsgrad und Wähler mit hohem Einkommen und niedrigem bzw. hohem Bildungsgrad. Das Wahlverhalten dieser vier Gruppen habe sich innerhalb der letzten vierzig Jahre verschoben.
Als Triggerpunkt machte Rennert hierfür die wirtschaftliche Krise bzw. das Nachkriegsmodell und die Globalisierung bei gleichzeitiger Bildungsexpansion aus. Universitär ausgebildete Wähler mit eher schwachem Einkommen seien zu Beginn der 80er Jahre im linken Spektrum zu verorten gewesen. Die Mittelschicht der Industriegesellschaft ohne universitäre Ausbildung entfremdete sich jedoch zunehmend kulturell von linken, hin zu rechten Parteien. Auch ursprünglich linke Wähler mit niedrigerem Einkommen nahmen aufgrund zunehmender Ungleichheit und der kulturellen Öffnungspolitik Abstand von ihrem ursprünglichen Wahlverhalten. Diese Entfremdung konnten rechte Parteien nutzen, die auf eine kulturelle Mobilisierung setzten, und gewannen die entfremdeten Wähler für sich. Diese Betonung kultureller Konflikte führten sodann zum Rechtsruck der Wählergruppen. Der Wandel zur Wissensgesellschaft würde dadurch deutlich, dass die kulturelle und nicht die ökonomische Konfliktlinie für die Wähler entscheidend sei. Im Endeffekt zeige sich deshalb ein umgekehrtes Bild der Wählergruppen in Industrie- und Wissensgesellschaft. Mit dem Übergang zur Wissensgesellschaft habe die negative Polarisierung stark zugenommen, da die kulturelle Konfliktlinie Spaltungen zwischen den politischen Lagern stärker hervorrufe als die ökonomische.
Diese Umkehr werde am Beispiel der USA besonders deutlich, welche damit geeigneter Ansatzpunkt für die Untersuchung der Zusammenhänge mit staatlichen Institutionen sei. Charakteristisch für die Vereinigten Staaten sei das liberale System mit einem schwerfälligen politischen Verfahren, das staatliche Interventionen erschwere. Auch auf Ebene der Verwaltung werde die Schwierigkeit staatlicher Intervention deutlich: Regulierende Behörden seien zwar in unterschiedlichen Bereichen per Gesetz vorgegeben, allerdings mangele es an der Konstitutionalisierung gemeinwohlverträglicher Regulierung. Die Schwierigkeit staatlicher Regulierung verdeutlichte Rennert am Beispiel des Abbaus der „New Deal Institutionen“ im Tarif- und Mediensystem ab den 1980er Jahren, die mit dem Übergang zur Wissensgesellschaft die negative Polarisierung begünstigten. Auf dem Gebiet des Tarifrechts habe ab den 1980er Jahren die Unternehmensseite begonnen, Schwächen in den Sicherungen der Gewerkschaften aus den 1930er Jahren auszunutzen, um ihre Organisation zu behindern. Das habe zu einem erheblichen Einbruch der Mitgliederzahlen geführt, was sich langfristig in einer starken Auseinanderentwicklung der Gehälter abgebildet habe. Diese ökonomische Verarmung der Wählergruppen ohne College-Abschluss habe ein populistisches Potential geschaffen, dass Trump ab 2016 habe abrufen können. Die kulturelle Mobilisierung, mit der er diese Wählergruppen erreicht habe, sei wiederum begünstigt worden durch Änderungen in der Medienregulierung. Zentral hierfür stehe die Abschaffung der „Fairness Doctrin“. Die Deregulierung führte allerdings ab 1988 zum Aufstieg der „right-wing media“, die sich durch eine starke kulturelle Mobilisierung und Feindlichkeit gegenüber den „mainstream media“ auszeichne. Die Einflussnahme der Republikaner durch die „right-wing media“ werde schon dadurch deutlich, dass 2016 die Hälfte der Trump Wähler angab, sich lediglich über „Fox News“ informiert zu haben. Während Republikaner kein Vertrauen in die „mainstream media“ wie die „New York Times“ hätten, lehnten Demokraten beispielsweise „Fox News“ weitestgehend ab. Dies bezeichnete Rennert als „asymmetrische Polarisierung“. Die Umbauten in den demokratischen Infrastrukturen in den 1980er Jahren hätten somit die negative Polarisierung vorangetrieben.
Im Anschluss an den Vortrag diskutierte die Zuhörerschaft ausgiebig mit dem Referenten die dargebotenen Thesen und Ansätze.
Victoria Schwarzer