Juristische Fakultät

01.12.2023

Perspektiven des Arbeitsrechts als Sozialprivatrecht

Abschiedsvorlesung von Professor Hermann Reichold

Prof. Hermann Reichold begeisterte mit seiner Abschiedsvorlesung die Zuhörerschaft

Am Freitag, dem 17. November 2023 lud Prof. Hermann Reichold unter dem Titel ,,Perspektiven des Arbeitsrechts als Sozialprivatrecht“ zu seiner Abschiedsvorlesung in den Großen Senat ein.

In seiner Begrüßung würdigte Dekan Prof. Jens-Hinrich Binder den Redner und dessen Wirken an der Fakultät seit dem Jahr 2000. Unter anderem als Fakultätsbeauftragter für Öffentlichkeitsarbeit, als Sprecher der zivilrechtlichen Säule und als langjähriger Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft habe sich Reichold selbstlos für die Belange der Fakultät eingesetzt. Mit zahlreichen arbeitsrechtlichen Fachveranstaltungen habe Reichold weit über die Grenzen Tübingens hinaus wirkmächtig die arbeitsrechtliche Praxis beeinflusst. Auch unabhängig davon sei er ein gesuchter Ratgeber in Fragen allgemein-arbeitsrechtlicher Art ebenso wie auf dem besonderen Gebiet des Kirchenarbeitsrechts, das er 2011 mit der von ihm betriebenen Einrichtung einer Forschungsstelle „Kirchliches Arbeitsrecht“ und mit der Mitwirkung am Institut für Recht und Religion auch institutionell an der Fakultät weithin sichtbar verankert habe. Hervorzuheben sei zudem sein Wirken als Richter am baden-württembergischen Staatsgerichtshof von 2007 bis 2012.

Sodann freute sich Reichold, der Zuhörerschaft anhand der Diskussion über die Einführung einer 32-Stunden-Woche einen Ausschnitt seiner Forschung näherbringen zu können. Zunächst betonte er, dass nach aktuellen Umfragen der Hans-Böckler-Stiftung 81 % der Vollzeit-Erwerbstätigen die Einführung einer 32-Stunden-Woche befürworteten, wovon 73 % auch noch den gleichen Lohn wie zuvor forderten. Die Rufe nach einer besseren ,,Work-Life-Balance“ würden immer lauter und sehr häufig werde die Verringerung der Arbeitszeit als passende Antwort hierauf gesehen. Nach Ansicht von Christian Sewing, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, sei eine gute „Work-Life-Balance“ allerdings auch mit einer 39-Stunden Woche gut möglich: „,Arbeit ist doch Teil des Lebens“. Auch andere wesentliche Stimmen hielten das Modell der 32-Stunden Woche mit Blick auf die deutlichen Wachstumsschwächen derzeit für nicht durchsetzbar. Soweit die Ausgangslage der Debatte.

Ob mit einer Reduzierung der Arbeitszeit tatsächlich eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft einher gehe oder ob sie auch als Chance gewertet werden könne, versuchte der Referent im Folgenden im Blick auf die Akteure der Tarifpolitik zu beantworten. Wirtschaftliche Änderungsnotwendigkeiten seien für kollektive Akteure eine ständige Herausforderung und damit eine lösbare Aufgabe. Das Tarifrecht als „Sozialprivatrecht“ ermögliche den kollektiven Akteuren auf tariflicher, gegebenenfalls auch betrieblicher Ebene Spielraum für Verhandlungen und „kreative“ Lösungen, auch wenn die inzwischen schwächere Tarifbindung immer mehr zu einer Zersplitterung von Arbeitsbedingungen führe – auch deshalb seien staatliche Eingriffe wie die Einführung des Mindestlohns als Unterstützung einer Tarifpolitik im Normallohnbereich sinnvoll gewesen.

Ob allerdings gleicher Wohlstand bei faktisch weniger Arbeit möglich sein werde, bezweifelte der Referent. In der Debatte dürften freilich demografische Entwicklungen wie der deutliche Rückgang der Geburtenrate nicht außer Acht gelassen werden. Qualifizierte Zuwanderung sei daher dringend notwendig.

Reichold rief letzten Endes dazu auf, nicht das Vertrauen in das geltende deutsche Tarifrecht zu verlieren. Denn Tarifverhandlungen folgten einer Marktlogik, die dem Grundsatz des ,,do ut des“ (Prinzip der Gegenseitigkeit als „Quellcode“ und Strategie sozialen Verhaltens bzw. kollektiver Verhandlungen) folgten. Alle „Gerechtigkeit“ in den jeweiligen Branchen sei letzten Endes ein Ergebnis eines – wenn auch turbulenten, den Streik einschließenden – Tauschhandels. Eine Veränderung der rechtlichen Grundlagen des Tarifrechts als „prozedurales“ Recht sei dementsprechend nicht erforderlich. Die Arbeitswelt unterliege einem steten Wandel, in dem inzwischen auch mehr Rücksicht auf die individuellen Lebenslagen der Arbeitnehmer genommen werde. Der Fachkräftemangel führe teils sogar zu einer stärkeren Position der Arbeitnehmer als Anbieter ihrer Arbeitsleistung. Die Arbeitswelt sei gerade deshalb nicht staatlich beeinflussbar, auch wenn sich dies in manchen notleidenden Branchen mit gesellschaftlicher Bedeutung (z.B. „Pflegelohnkommission“) geändert habe.

Wichtiger wären im Übrigen Korrekturen des deutschen Sozialstaats, so Reichold, insoweit die maroden Sozialsysteme, insbesondere die mit ca. 80 Milliarden vom Staat subventionierte Rentenversicherung, den Arbeitsvertrag zu einem „schweren“ Vertrag aus Sicht des Arbeitgebers gemacht hätten. Die Zukunftsfähigkeit des Sozialsystems sei zu hinterfragen und eine ausnahmslose Verlängerung der Regelarbeitszeit bis zum 67. Lebensjahr zu befürworten.

Als Fazit bezeichnete Reichold die Lage als ,,ernst, aber nicht hoffnungslos“. Die Einführung einer 32-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich sei nicht zwingend schädlich für den Aufschwung der deutschen Wirtschaft, wenn diese zu mehr und nicht weniger Produktivität führe. Hierbei sollte man, so der Arbeitsrechtler, auf die Sinnhaftigkeit eines gegebenenfalls hart erkämpften Kompromisses bei Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber im jeweiligen Wirtschaftssektor vertrauen.

Im Anschluss an den Vortrag des emeritierten Professors lud er Freunde, Kolleginnen und Kollegen zu einem Empfang und zur Diskussion seiner Thesen in den kleinen Senat ein. Reichold gilt Dank für sein großes Engagement zugunsten der gesamten Fakultät. Auch in seiner letzten Vorlesung zeigte er, dass Arbeit für ihn mehr als nur Teil des Lebens ist. Vielmehr stellten Forschung und Lehre für ihn eine Leidenschaft dar, die ihm trotz seiner Emeritierung erhalten bleiben wird.

 

Text: Victoria Schwarzer 

Bild: Laura Anger 

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