Philologisches Seminar

Fokalisierung

Der Begriff der Fokalisierung (focalization) wurde von Genette (2010, 121–124; 213–220) in die Narratologie eingeführt und unterscheidet die Frage 'Wer sieht?' und 'Wer spricht?'.

Genette hatte zuvor kritisiert, dass in bestehenden Ansätzen zu Fragen des Erzählmodus (z.B. Stanzels berühmtem ‚Typenkreis‘ der Erzählsituationen) die zentralen und grundverschiedenen Fragen nach der ‚Stimme‘ und dem ‚Wahrnehmungsfeld‘ eines Textes vermischt würden. So legt die Frage ‚Wer spricht?‘ den Fokus auf den Sprechakt eines Erzählers oder einer Textfigur. Die Frage ‚Wer sieht?‘ bzw. ‚Wer nimmt wahr?‘ (d. h. die Fokalisierung) behandelt dagegen Fragen des räumlichen, ideologischen, epistemischen oder moralischen Standpunktes, mithin das subjektive ‚Fenster‘ zur Textwelt (vgl. Jahn 1996), das oftmals zum ‚emotionalen oder ideologischen Kern‘ der entsprechenden Passage führt (de Jong 2014, 69). Für Genette ist die Fokalisierung zunächst klar vom räumlich-visuellen Standpunkt (point-of-view) einer Erzählinstanz getrennt. Er versteht darunter die Einschränkung des Erzählerwissens im Vergleich zu den handelnden Charakteren (d. h. Nullfokalisierung = keine Einschränkung des Wissens und die Erzählinstanz weiß mehr als die Textfiguren; Interne Fokalisierung = die Erzählinstanz sagt nur, was die Figuren wissen können; Externe Fokalisierung = die Erzählinstanz sagt weniger als die Figuren wissen können). Bal (2017, 132–153) und de Jong (2014, 47–72) sind dagegen spätere Vertreter eines weiter gefassten Verständnisses von Fokalisierung, das unter der Frage ‚Wer sieht?‘ grundsätzlich alle Aspekte des ‚subjektiven Standpunktes‘ subsumiert und diese so als flexibles Analyseinstrument (moderner wie klassischer Texte) zum Einsatz bringt.

Die Fokalisierung einer Textpassage kann entweder durch direkte Markierungen (d. h. Ausdrücke des Sehens, Wahrnehmens etc.) indiziert oder implizit aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Analog zu den Erzählinstanzen eines Textes kann auch bei der Fokalisierung zwischen der des Primärerzählers (primary narrator-focalizer) und der einer Textfigur (secondary narrator-focalizer) unterschieden werden (vgl. de Jong 2014, 48–50). Im ersten Buch der Aeneis, als der Protagonist geführt durch Venus einen Hügel erklimmt, um über das im Bau befindliche Karthago zu blicken (miratur molem Aeneas, magalia quondam, miratur portas strepitumque et strata viarum, 1.421-422) werden beide Ebenen deutlich. Der zweifache Hinweis auf das Staunen (miratur; miratur) zeigt eine Charakterfokalisierung von Aeneas an, während die Erläuterung auf die vormals dort stehenden Lehmhütten (magalia quondam) eindeutig dem Erzählerwissen zuzuordnen ist. Besonders kompliziert ist der Fall, wenn die Fokalisierung eines Charakters – wie auch im oben genannten Beispiel – im Sprechakt einer übergeordneten Erzählinstanz ‚eingebettet‘ ist (embedded focalization; vgl. dazu de Jong 2014, 50–56). In diesem Fall ist oft nicht eindeutig, ob die Hinweise auf die Wahrnehmung/Beurteilung eines entsprechenden Sachverhaltes dem Figuren- oder dem Erzählerwissen zuzuordnen ist. Es handelt sich dabei um einen Fall inhärenter Ambiguität, deren Einordnung oft erweiterter textlicher Ko(n)texte bedarf. In manchen Fällen ist die Ambiguität der Fokalisierung sogar als narrative Strategie erkennbar: Das zweite Buch der Metamorphosen beispielsweise erzählt die Geschichte der Nymphe Coronis (2.542-632), der Geliebten des Gottes Apollon, die von diesem irrtümlich der Untreue verdächtigt und im Zorn getötet wird. Nach ihrem Tod führt der Gott selbst die Trauerrituale durch: Er begießt sie mit Weihrauch und vollzieht die ‚ungebührenden letzten Ehren‘ (iniusta iusta, 3.627). Auf der einen Seite spiegelt die Bezeichnung ‚iniusta‘ die Wahrnehmung des Gottes wider, der seine Tat bereut. Auf der anderen Seite kann man darin auch eine ‚Einmischung‘ (intrusion, vgl. de Jong 2014, 53) der Erzählinstanz erkennen, die den in der Tat ‚ungerechten‘ Gewaltakt in ihrer Wiedergabe der Geschichte verurteilt.

Artikel Focalization im Living Handbook of Narratology

Artikel Perspective - Point of View im Living Handbook of Narratology

Infografik Fokalisierung (nach Genette)

Literatur zum Thema (Auswahl)

Einführende Literatur:
  • Bal, Mieke (42017), Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press, 132153.

  • Fludernik, Monika (2013), Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 47–50.

  • Genette, Gérard (32010), Die Erzählung, Paderborn: Fink, 118127.

  • Jong, Irene J. F. de (2014), Narratology and Classics. A Practical Guide, Oxford: Oxford University Press, 4772.

Weiterführende Literatur:
  • Abele, Andreas (2020), Ut fidem dictis adhibeant. ‚Distanz‘ und ‚Fokalisation‘ in der ‚Mantelteilung‘ des Heiligen Martin (zu Sulp. Sev. Mart. 2-3), in: Mnemosyne 73, 633–658.
  • Jahn, Manfred (1996), Windows of Focalization. Deconstructing and Reconstructing a Narratological Concept, in: Style 30, 241–267.
  • Jong, Irene J. F. de (22004), Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the Iliad, London: Bristol Classical Press.

  • Niederhoff, Burkhard (2001), Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz, in: Poetica 33 (1/2), 1–21.