Deutsches Seminar

4. Nachwuchsforum: Kopenhagen 2001

Übersetzen im Kontext

Nachdem die Doktorandinnen und Habilitandinnen der mediävistischen Abteilung des Deutschen Seminars von der Universität Tübingen sich dreimal im süddeutschen Raum über Fragestellungen und Ergebnisse der eigenen Arbeiten ausgetauscht hatten, ergab sich für das 4. mediävistische Nachwuchsforum die Möglichkeit, grenzüberschreitend weiterzuarbeiten: Katrine Prassé, die zwei Semester in Tübingen verbracht hatte, bot an, uns Räume, Kollegen und Handschriften in Kopenhagen zu erschließen. So tagten wir vom 27. April bis 1. Mai 2001 in neuem Kontext, aber die inhaltliche Arbeit schloß nahtlos dort an, wo wir beim letzten Treffen aufgehört hatten: bei der Möglichkeit, Texte durch Übersetzung - sei sie nun sprachlicher, kultureller oder formaler Art - einem je unterschiedlichen Publikum zu erschließen.

Die Tage waren so aufgeteilt, daß zuerst in der Form der letzten Treffen reihum über die eigenen Projekte referiert wurde und sich dann ein gemeinsamer Workshop mit Kopenhagener Beteiligung anschloß, gerahmt und ergänzt durch Bibliotheksbesuche. Dabei wurden für die Projektvorstellungen dort, wo es möglich war, bewußt Themenausschnitte gewählt, die der Fragestellung des Workshops zuarbeiteten. Gleich die erste Vorstellung von Astrid Breith machte die Zentralität der Übersetzungsfragestellung für mediävistische Themen deutlich: sie stellte die Redaktionstätigkeit der Lichtenthaler Nonne Regula durch Konfrontation von lateinischen und deutschen Bearbeitungen der Magdalenenlegende vor. Es ging ihr in der Gegenüberstellung auch darum, die Tragfähigkeit moderner Fragestellungen zu überprüfen, wie sie sich hier, wo eine Frau ein Frauenlegendar zusammenstellt, etwa aus der Gender-Forschung anbieten. Das erfordert aber die Einbeziehung der zeitgenössischen Form des Textumgangs: die Stärken der Regula-Texte lassen sich nicht absolut etwa über den Originalitätsbegriff fassen, sondern nur im Zusammenspiel des von Kompilation und Redaktion geprägten Textensembles. Cora Dietl ging es in dem folgenden Beitrag um ein Ensemble ganz anderer Art: "Maximilian, die Freiburger Fronleichnamsprozession und die Türken" zeichnete historische Konstellationen nach, die u.a. dazu führten, daß in einem Fronleichnamsspiel über die heilige Ursula der türkische Kaiser auftauchte und der vom Kreuzzugsgedanken besessene Maximilian großes Interesse an der Fronleichnamsprozession zeigte. Solches Einschreiben politischer Konstellationen in den Text trägt mit dazu bei, daß Dramen Ende des 15. Jahrhunderts neue Bedeutung erhalten.

Zusammenhänge auf wieder einer anderen, nämlich der konzeptuellen Ebene stellte der Vortrag von Sibylle Hallik vor: die Beschreibung der Verbindung von Rhetorik, ars dictaminis und Poetik sollte überprüfen, was an theoretischer Fundierung notwendig ist, um die Einbindung von Sentenzen und Sprichwörtern in theoretische und literarische mittelalterliche Texte verständlich zu machen. Im Prinzip ging es dabei um ein grundlegendes Problem, das alle, die mit der Praxis mittelalterlicher Texte arbeiten, beschäftigt: was schlägt sich von dem, was im Schulunterricht an Grundlagenwissen vermittelt wird, in den Texten selbst nieder und wie genau läßt sich die Form der Wissensvermittlung fassen. An diesem Punkt schlossen sich die Beobachtungen von Franziska Küenzlen zur Konvergenz der Stilistik des spätantiken Dichters Apuleius und seines Renaissance-Bearbeiters Firenzuolas an: beide schreiben in einer Zeit, in der sprachlicher Manierismus den literarischen Stil prägt, so daß der ‚Goldene Esels' trotz der teilweise recht freien Aktualisierungen für das italienische Publikum des 15. Jahrhunderts eine kongeniale Umsetzung darstellt, die sich stark von den durch ganz andere Prinzipien geprägten deutschen und spanischen Übersetzungen unterscheidet.

Mit Bearbeitungsprozessen der Volkssprache beschäftigten sich dann auch die Überlegungen zu den frühmittelhochdeutschen Judith-Dichtungen. Ausgehend von kodikologischen Untersuchungen zur Vorauer Handschrift von ca. 1200, fragte Henrike Lähnemann danach, wie sich die Wahrnehmungsweisen von Texten verändern, wenn sie für ein neues Publikum redigiert und in den Rahmen einer Sammelhandschrift integriert werden: die Prologaussagen, die von autoritativ gesicherter Wissensvermittlung sprechen, werden dabei als Rezeptionsanweisungen je neu lesbar. Fast zwei Jahrhunderte später und in einer ganz anderen Gattung stellte auch Sandra Linden die Frage nach dem Stellenwert von Didaxe. In Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst bilden Wertelehren, zusammengestellt aus mehreren topischen Reihen wie sie etwa Walthers von der Vogelweide ‚Ich saz ûf eime steine' präsentiert, den Beschluß des Werks - determinieren sie damit die Gesamtlesart oder sind sie nur eine weitere Facette im Rollenspiel des Ich-Erzählers? Die Diskussion tendierte zu einer relativierenden Lesart: Ulrich von Lichtenstein will sich auch als Lehrender präsentieren, ohne daß aber damit der gesamte Frauendienst zu einem Lehrtext würde. Schließlich beschloß Katrine Prassé den Reigen der Projektvorstellungen mit methodischen Überlegungen dazu, wie sich die besondere Wirksamkeit des Gottfriedschen ‚Tristan' auf ein zeitgenössisches Publikum erklären lassen kann - und wie sie einer modernen, nicht fachspezifischen Leserschaft vermittelbar ist.

Sie leitete mit dieser Frage, zugespitzt auf die ganz konkreten Schwierigkeiten einer Übersetzung mittelhochdeutscher Epik für ein dänisches Publikum auch den Workshop ein, der unter dem Titel ‚Übersetzen im Kontext' den Versuch eines Brückenschlags zum einen zwischen mittelalterlicher Theorie und Praxis und zum anderen zwischen pragmatischem Übersetzen in verschiedenen Medien leisten sollte. Extrembeispiel dafür, daß die für mittelalterliche Texte unverzichtbare Relationierung der Übersetzung hin auf ein jeweiliges Publikum auch für moderne Medien und Textsorten gilt, war der Beitrag des Kopenhagener Germanisten Bjørn Ekmann, der an einer mit dänischen Untertiteln versehenen Filmsequenz aus der Serie ‚Motzki' zeigte, daß Komik nur kontextuell übersetzbar ist und sich an der Aufnahmefähigkeit und Vorbildung des Publikums orientieren muß, will sie nicht ihres Verweischarakters verlustig gehen. Zwischen diesen dänisch-deutschen Reflexionen stand ein theoretisches Grundlagenreferat von Sibylle Hallik zu den Prinzipien von amplificatio und abbreviatio in mittelalterlichen Poetiken: es zeigte sich, daß mehrere der bisher schon behandelten Texte sich neu erschlossen, wenn man einmal nicht von einem modernen Übersetzungsbegriff ausging, sondern Erweiterungen und Kürzungen etwa in den Texten der Nonne Regula, die Astrid Breith vorstellte, als regelgerechte Übertragungsleistung analysierte. Mit diesem Instrumentarium ließen sich umgekehrt andere Gattungen aus dem Komplex ‚Übersetzung' aussondern: so ist die Hoheliedparaphrasierung Willirams von Ebersberg, deren Anfangspassage Henrike Lähnemann analysierte, eben gerade nicht von Übersetzungs-, sondern von Kommentartraditionen geprägt und zeigt dadurch eine ganz andere Vorgehensweise, und die italienische Entwicklung der Übersetzungstätigkeit vom 13.-16. Jahrhundert (Franziska Küenzlen) orientiert sich an wechselnden Paradigmen.

Nur kurz sei auf das äußerst spannende Rahmenprogramm verwiesen, das uns im Gespräch mit den Fachleuten aus dem Arnamagnæanske Institut (Michael Chesnutt), der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek (Erek Petersen) und der deutschen Abteilung (Willy Dähnhardt) zum einen kodikologische Grundlagen unseres Faches am reichen Bestand der isländischen und deutschen Handschriften vorführte (und in Form unidentifizierter Texte und veralteter Ausgaben verlockende Aufgaben stellte), zum anderen den Mikrokosmos einer international renommierten Bibliothek mit ihren Organisationsstrukturen, Gebäudekomplexen und Sammlungsgeschichten lebendig werden ließ.

Dr. Henrike Lähnemann (Deutsches Seminar)