Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit

Das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft ist seit Januar 1999 mit zahlreichen Einzelprojekten am Tübinger Sonderforschungsbereich 437 "Krieg und Kriegserfahrungen in der Neuzeit" beteiligt. In Rahmen dieses SFB sind am LUI eine Reihe von Dissertationen sowie eine Habilitation verfasst worden. Zudem fand im Jahr 2002 eine themeneinschlägige Studienprojektausstellung (2002: Kleines aus dem Großen Krieg. Metamorphosen militärischen Mülls) statt. Gleichfalls im Kontext des Tübinger SFB wurden bislang auch zwei Tagungen organisiert: "Populare Religion und Kriegserfahrung" (16.-18. Mai 2003); "Zwischen Krieg und Frieden. Die Konstruktion des Feindes" (6.-7. November 2005)

EKW- Teilprojekte

1. Phase (1999-2001): Symbolisierung von Kriegserfahrung
2. Phase (2002-2004): Populäre Religiosität und Kriegserfahrung
3. Phase (2005-2008)

Phase 1: Symbolisierung von Kriegserfahrung

Projektlaufzeit 1999-2001
Projektleitung Prof. Dr. Gottfried Korff
Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen Dr. des Christine Beil
Dr. Thomas Fliege
Monique Scheer
Claudia Schlager
Dr. des. Ralph Winkle

Das Ludwig-Uhland-Institut ist mit drei Projekten an dem zum Januar 1999 eingerichteten Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" beteiligt. In Kooperation mit verschiedenen Sparten der Geschichtswissenschaft, der Theologie und Kunstgeschichte soll eine an Fragen der Symbolisierung und Deutung orientierte kulturwissenschaftliche Sicht auf den Krieg gestärkt werden. Gemeinsame theoretische Klammer bildet ein erfahrungsgeschichtlicher Ansatz. In Anlehnung an die Konzepte der Wissenssoziologie geht dieser davon aus, dass es nicht die Erfahrung des Krieges gibt. Sondern es müssen eine Vielzahl zeit- und standortgebundener Konstruktionen von Kriegserfahrungen kontextbezogen rekonstruiert werden. Sowohl die Akteure des Krieges als auch die Sinnbildungsinstitutionen, die während und nach den Kriegen für die Herausbildung von Kriegsbildern verantwortlich zeichnen, werden in den Blick genommen.

Der zeitliche Rahmen spannt sich vom 17. bis in das 20. Jahrhundert. Dabei bilden der Dreissigjährige Krieg als das wichtigste Beispiel eines frühneutzeitlichen Krieges, das Zeitalter der französischen Revolutionskriege und napoleonischen Kriege und das Zeitalter der Weltkriege die drei Schwerpunkte. Thematisch gliedert sich der Sonderforschungsbereich in fünf Projektbereiche:
Kriegsteilnahme und Enstehung von Kriegserfahrung
Kriegserfahrung in der Region
Kriegserfahrung und Prozesse nationaler Integration und Desintegration
Symbolisierung von Kriegserfahrung
Kriegserfahrung und wissenschaftliche Praxis

Alle drei Projekte des Ludwig-Uhland-Institutes sind im Bereich D: Symbolisierung von Kriegserfahrung angesiedelt, der auch Projekte der Kunstgeschichte und Osteuropäischen Geschichte umfasst. Im Mittelpunkt stehen die vielfältigen Formen der Verarbeitung sowohl aktueller als auch länger zurückliegender Kriegserfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert. Indem die jeweils zeitgenössischen Sinnbildungs- und Deutungsprozesse durch Institutionen und Künste, Symbole und Rituale untersucht werden, gelingt es, den symbolischen Ordnungen auf die Spur zu kommen, innerhalb derer und mit denen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften über vergangene Kriege kommunizieren und die Vermittlung von Erfahrung als Teil einer Konstruktion von Wirklichkeit geleistet wird.

Sowohl das Projekt von Sabine Kienitz "Der kriegsversehrte Soldatenkörper als Medium der Vermittlung von Kriegserfahrungen während und nach dem Ersten Weltkrieg" als auch das Projekt von Ralph Winkle "Fragmentierung und Formierung männlicher Ehre in der Weimarer Nachkriegsgesellschaft" gehören dem ersten Teilprojekt "Fragmentierung und Uniformierung" an. Im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse in und nach dem Ersten Weltkrieg war Fragmentierung eine grundlegende Erfahrung der Menschen. Fragmentierung im konkreten Sinne, als materielle oder körperliche Zerstörung, aber auch in einem übertragenen Sinne, wie bei der Frage nach den Konzepten männlicher Vorstellungen von Ehre, wo ein Auseinanderbrechen und zugleich eine Neuformierung tradierter und scheinbar feststehender Sinngehalte zu beobachten ist. Sabine Kienitz analysiert in ihrem Projekt am Beispiel der auf rund 2,7 Millionen geschätzen Zahl der Kriegsversehrten, welche Bedeutung dem kriegzerstörten männlichen Soldatenkörper im und nach dem Ersten Weltkrieg bei der Festigung und zugleich der Formierung wie Prägung von Kriegserfahrungen kriegsferner beziehungsweise nachfolgender Generationen zukam.

Ralph Winkles Untersuchung wird von der Frage geleitet, wie sich die Erfahrungen von Niederlage, Demobilisierung und sozialer Reintegration der männlichen Kriegsgeneration in eine zivile Gesellschaft in dem spezifischen kulturellen Deutungsmuster "Ehre" sedimentiert haben.

Ein weiteres Teilprojekt "Ritualisierung und Institutionalisierung" nimmt Institutionen wie Riten und Feiern, aber auch Museen und Ausstellungen in den Blick, die als Teile des kulturellen Gedächtnisses qua Medialisierung Erfahrung verarbeiten und zugleich erzeugen. Diesem ist die Untersuchung von Christine Beil "Kriegsrepräsentationen: Die Darstellung der beiden Weltkriege in deutschen Museen und Ausstellungen 1914 bis 1995" zugeordnet. Sie fragt danach, welche spezifische Rolle Museen und Ausstellungen mit den ihnen eigenen Mitteln der Präsentation und Repräsentation an der Überlieferung, Prägung und Formierung von Kriegbildern sowie den hier angebotenen Deutungen und Umdeutungen von Kriegserfahrungen gespielt haben. Dabei kommt der Art und Weise der Übersetzung von Erfahrung in eine (ausstellungs-)ästhetische Dimension eine besondere Bedeutung zu.

Phase 2: Populare Religiosität und Kriegserfahrung

Projektlaufzeit 2002 - 2004
Projektleitung Prof. Dr. Gottfried Korff
Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen Dr. des Christine Beil
Dr. Thomas Fliege
Monique Scheer
Claudia Schlager
Dr. des. Ralph Winkle

Der zum Januar 1999 eingerichtete Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" ist im Januar 2002 in die zweite Bewilligungsphase gegangen. Diese Phase setzt Fragestellungen des ersten Bewilligungszeitraums mit neuen Schwerpunkten fort, und zwar in sechs Projektbereichen:
B: Grenzräume und Kriegserfahrungen
C: Nation, Imperium und Kriegserfahrungen
D: Medialisierung von Kriegserfahrungen
E: Kriegserfahrungen in Humanwissenschaften und Technik - Normierung, Planung und Kommunikation
F: Die Wirkung von medialer kriegerischer Gewalt auf Gehirn und Verhalten
G: Religion und Kriegserfahrungen

Das Ludwig-Uhland-Institut ist in der zweiten Phase mit vier Untersuchungen am Projektbereich G beteiligt. Diese knüpfen an leitende Fragestellungen der kulturwissenschaftlichen Projekte der ersten SFB-Phase an, indem sie die Frage nach der Bedeutung hochaggregierter (in dieser Phase: popular-religiöser) Symbolsysteme bei der subjektiven und kollektiven Konstitution von Kriegserfahrungen stellt. Zusammen mit den Historikern, Kirchenhistorikern und Judaisten werden im Projektbereich G religiöse Formen und Formierungen von Kriegserfahrung - ausgehend von dem allen SFB-Projekten gemeinsamen wissenssoziologischen Erfahrungsbegriff - nachgegangen. Dabei liegt der Schwerpunkt des kulturwissenschaftlichen Teilprojekts G4 auf der popularen Religiosität, d.h. auf popularisierten, para- und anti-institutionellen Glaubensformen.

Drei Studien beschäftigen sich mit kirchlich präformierten Frömmigkeitsschemata, die um katholische Heiligengestalten zentriert sind. Das Projekt von Monique Scheer untersucht den Marienkult, der nach dem Zweiten Weltkrieg und in den ersten Jahren des Kalten Kriegs eine deutliche Konjunktur erlebt - sowohl in Form von kirchlichen Impulsen, wie die Dogmatisierung der 'leiblichen Himmelfahrt' Mariens 1950, als auch in der Laienfrömmigkeit, etwa in Form von Rosenkranzgebetsgruppen. Integraler Bestandteil dieser Konjunktur war der Glaube an die Marienerscheinungen in Fatima, Portugal, mitten im Ersten Weltkrieg (Mai-Oktober 1917). Die Rezeption dieses kirchlich approbierten Kultes führte zu einer Reihe von kirchlich abgelehnten 'Nachahmer-Erscheinungen' in Deutschland zwischen 1945 und 1955, von denen einige in dieser Studie genauer in den Blick genommen werden. Es soll nicht nur nach ihrem Zusammenhang mit Kriegserfahrung gefragt werden, sondern ebenfalls danach, in wie fern ein Marienbildtypus - die Immaculata - , der sich in den Konfessions- und Religionskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts als Schutz- und Kriegspatronin etabliert, in der popularen Frömmigkeit der Weltkriegsepoche reaktiviert wird.

In der Studie "Herz Jesu / Sacré Coeur. Deutsch-französischer Vergleich eines Kultes im Kriegseinsatz" untersucht Claudia Schlager die Vermittlung und Praxis dieses popularisierten Kultes im Ersten Weltkrieg. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die verschiedenen Trägergruppen gerichtet (Bischöfe, politisch motivierte katholische Gruppierungen, Feldgeistliche, Soldaten und deren Angehörige...), die diese, durch ein ausdifferenziertes Symbolsystem gekennzeichnete, traditionelle Devotionsform im Krieg unterschiedlich funktionalisierten (konsolatorisch, legitimatorisch...). Über die Analyse der Objektivationen des Kultes, wie etwa den 1915 in Deutschland und Frankreich durchgeführten nationalen Herz-Jesu-Weihen, den Kriegsandachten, dem Medaillen- und Bildgebrauch ist es möglich, die Funktionalisierungen dieses Kultes, der als Amalgam aus politischem Katholizismus, religiös gefärbtem Nationalismus und individuellen Formen popularer Religiosität auftritt, herauszuarbeiten und nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten - rückgebunden an die jeweils unterschiedliche Kriegserfahrung - zu bestimmen.

In der Ikonographie des Ersten Weltkrieges nimmt der hl. Michael eine zentrale Position ein: Michael gilt als Führer und Schirmherr der Deutschen, er streitet in "Gottes Auftrag" auf Deutschlands Seite "gegen den bösen Feind", er fungiert als mobilisierendes Fanal gegen die feindlichen Truppen. Dabei vereinte seine Symbolik Relikte verschiedener Herkunft: die frühere Identifikation mit Kaiser Wilhelm II., die deutschen Heroen Siegfried, Goethe und Bismarck, mitunter sogar germanisierende Motive. Im Resultat ergibt die Mixtur einen blonden jugendlich-strahlenden Kämpfer, eine Art Siegfried als Schutzheiligen der deutschen Heere. Die Michaelsverehrung und die daraus ableitbaren Bedeutungszuschreibungen werden dabei im Rahmen einer Konfessionskomparatistik von Thomas Fliege vergleichend untersucht.

Die vierte Untersuchung in diesem Teilprojekt wendet sich statt der institutionell vorgeprägten religiösen Deutungsmuster den hochgradig synkretistischen Formen religiöser Praxis zu, die im Ersten Weltkrieg als "Kriegs- und Soldatenaberglauben" bezeichnet wurden. Trotz seines Ausmaßes im Ersten Weltkrieg sind sie in der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung bisher nicht thematisiert worden. Ralph Winkle und Christine Beil nehmen in ihrer Studie nicht nur die Handlungsebene der Akteure in den Blick, sondern untersuchen auch drei Diskurse, die entschieden zur Konstruktion des Phänomens "Kriegs- und Soldatenaberglauben" beigetragen haben: So haben sich während des Krieges neben Volkskundlern vor allem Vertreter der Militärpsychologie und der Kirchen mit den 'häretischen Formen' religiöser Praxis auseinandergesetzt. In dem Projekt geht es darum, diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Zusammenhang von Krieg und populärer Religiosität zu rekonstruieren und übergreifende Strukturen zu analysieren.

Phase 3

Projektlaufzeit 2005-2008
Projektleitung Prof. Dr. Reinhard Johler, (Projektbereichssprecher: Kriegserfahrungen in den Humanwissenschaften)
Prof. Dr. Gottfried Korff

Einzelprojekte

Eigenprojekt: Prof. Dr. Reinhard Johler
Kriegserfahrung und die Generierung einer Wissenschaft in (Zenral)Europa: Die (nationalen) Volkskunden/Ethnologien im europäischen Vergleich
(Projektbereich E: Krieg in den Humanwissenschaften)

In diesem Projekt werden zwei Ziele verfolgt: Einerseits wird eine Synthese der bereits abgeschlossenen bzw. in dieser SFB-Phase vorgeschlagenen volkskundlichen Untersuchungen angestrebt. Dies betrifft v. a. die dort analysierten, großen Sammel- und Repräsentationsaktionen der deutschen (etwa zu Aberglauben, aber auch zu Museen) wie auch der österreichischen Volkskunde (Volkskunde der besetzten Gebiete; Balkanexpeditionen, Kriegsausstellungen) im Zuge des 1. Weltkriegs. Dabei wird gerade der Zusammenhang von Krieg(serfahrung) und Wissenschaft am Beispiel der versuchten Etablierung dieser Disziplin im deutschsprachigen Raum thematisiert und damit eine in der dominant auf die nationalsozialistische Involviertheit des Faches zielende Geschichtsschreibung bislang kaum reflektierte Forschungslücke geschlossen. Denn wie die ersten universitären Institutsgründungen in der frühen Nachkriegszeit zeigen, ist die unmittelbare Bedeutung des (verlorenen) Krieges und die damit verbundene "Wendung nach Innen" für die Akademisierung von Volkskunde hoch. Und obwohl die großen volkskundlichen Sammelaktionen des 1. Weltkrieges nur sehr begrenzt zu Publikationen führten und danach - freilich im 2. Weltkrieg mit z. T. ähnlichen Fragestellungen wiederholt - weitgehend vergessen wurden, ist doch der deutschen wie auch der österreichischen Volkskunde im internationalen Forschungskontext (der 50er Jahre) die nationale Besonderheit einer "soldatischen Volkskunde" oder einer "Kriegsvolkskunde" zugeschrieben worden. Diese auf Spezifik, wenn nicht sogar auf einen "nationalen Sonderweg" der deutschsprachigen Volkskunden zielenden Bezeichnungen bedürfen allerdings der Differenzierung - so wie sich eine solche auch durch die volkskundlichen Projekte ergibt: Während nämlich die österreichische Volkskunde im 1. Weltkrieg ein besonderes Interesse am "Fremden" (russische Kriegsgefangene) bzw. "unvollständig Anderen" entwickelte, orientierte sich die deutsche Volkskunde primär am "Eigenen" (etwa: deutsche Soldatensprache und -lieder).
Doch wichtiger - und dies ist das zweite Ziel dieser Untersuchung - ist eine Einordnung dieser deutschsprachigen "Kriegsvolkskunde" in die gesamteuropäische Entwicklung der Disziplin im engeren Umfeld des 1. Weltkriegs. Denn ein genauerer Blick auf die verwandten, nicht-deutschsprachigen Volkskunden/Ethnologien - und ein solcher ist in der Tat bisher noch nicht getätigt worden - zeigt vielfältige, z. T. auch überraschende Übereinstimmungen. So wurde das Fach etwa in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie (aber auch darüber hinaus) gleichfalls nach dem 1. Weltkrieg endgültig universitär etabliert. Und zudem existierten analog zu den deutschsprachigen Volkskunden ähnliche Sammelaktionen (in Frankreich) bzw. leitende Forschungsinteressen (etwa in Italien die "folklore di guerra").
Davon ausgehend wird die unterschiedlich verlaufenene - und nicht zuletzt durch den Krieg zu erklärende - universitäre Etablierung der Disziplin in Europa untersucht. Denn offensichtlich ist, dass Volkskunde primär bei den "Kriegsverlierern" (also Deutschland, Österreich, Ungarn bzw. den daraus entstehenden Nachfolgestaaten) eine nachhaltige universitäre Institutionalisierung finden konnte.

Projektbearbeiterin: Alexandra Kaiser M.A.
Der Volkstrauertag als rituell-performatives Medium der Bewältigung von Kriegserfahrungen und des Gedenkens an die Gefallenen und Kriegstoten
(Projektbereich: Medialisierung von Kriegserfahrungen)

Alle kriegsbeteiligten Nationen reagierten auf den Ersten Weltkrieg mit der "Erfindung" neuer, je eigener Symbole und Rituale. Der maßgeblich vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. propagierte und geformte Volkstrauertag, der seit Anfang der 1920er Jahre auf Reichs-, Länder- und Gemeindeebene begangen wurde, lässt sich in diesem Sinne als Reaktion auf die Erfahrung des Massensterbens im industrialisierten Krieg und zugleich auf die spezifischen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik interpretieren. 1934 als "Heldengedenktag" zum gesetzlichen Feiertag bestimmt und damit zum ersten Mal in allen Ländern am gleichen Termin begangen, wurde der Volkstrauertag 1952 erneut offiziell als Gedenktag in der Bundesrepublik eingeführt und wird bis heute am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent gefeiert.
Unmittelbare Vorläufer des Volkstrauertages waren Gedenkfeiern für die gefallenen Soldaten in den einzelnen Gemeinden, die sich bereits während des Ersten Weltkrieges einbürgerten; im Unterschied zu diesen in der Regel kirchlichen Feiern war mit dem Volkstrauertag die Idee eines konfessions-, partei- und schichtenübergreifenden Gedenktages verbunden. Während der Ursprung eines Gedenktages für die Gefallenen also auf ein Bedürfnis der Hinterbliebenen nach Sinnstiftung und Kompensation der Kriegserfahrung zurückgeht, wurde dieses Bedürfnis in der Institution Volkstrauertag zugleich politisch überformt und national interpretiert.
Die Dissertation will sich mit Kontinuitätslinien und Brüchen im Sinn- und Symbolkonstrukt Volkstrauertag beschäftigen, wobei der Schwerpunkt auf der symbolisch-rituellen Dimension liegt. Bei der Untersuchung des Volkstrauertagsrituals in der Weimarer Republik, dem "Dritte Reich" und der BRD gilt es, zwei Entwicklungslinien im Auge zu behalten: Erstens lassen sich formale Veränderungen im rituellen Ablauf und damit einhergehende Bedeutungsänderungen nachzeichnen. Zweitens müssen Um- und Neuinterpretationen derselben Symbolformen betrachtet werden, die dank der Polyvokalität von Symbolen sowohl synchron auf unterschiedlichen Feierebenen als auch diachron im Vergleich der Feiern verschiedener Jahre möglich sind. Konkret sollen die angeschnittenen Fragestellungen durch verschiedene Lokalstudien einerseits und durch symbolgeschichtliche Längsschnitte, also durch eine Analyse einzelner Symbole, andererseits bewältigt werden.
Die Bandbreite der bei den Volkstrauertagsfeiern eingesetzten Symbolformen war - so lautet eine Arbeitshypothese - anknüpfend an die unterschiedlichen lokalen und konfessionellen Traditionen in der Weimarer Republik noch sehr groß; gleichzeitig zeigten die Volkstrauertagsfeiern in der Zwischenkriegszeit starke Ähnlichkeiten zu anderen Gedenkfeiern für die gefallenen Soldaten. Bereits in den 1920er Jahren versuchte der Bundesvorstand des Volksbundes zwar, wenigstens einen gemeinsamen Termin der Länder für den Gedenktag und eine größere Vereinheitlichung der Feiergestaltung zu bewirken, als starker Katalysator für eine Durchsetzung und Vereinheitlichung der Volkstrauertagsfeiern hat aber vor allem die Zeit des "Dritten Reiches" gewirkt. Nach 1945 etablierte sich der Volkstrauertag als der bundesrepublikanische Gedenktag, wobei ihm nicht mehr nur der Status eines Gefallenengedenktages zugeschrieben wurde, sondern er offiziell zum Gedenktag für die Opfer von Krieg und Gewalt avanchierte. Der Ablauf der Feiern wurde immer stärker ritualisiert und mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit besetzt. Seit den 1970er Jahren wurde der Ablauf kaum noch verändert, während kontinuierlich versucht wird, die Sinngebung des Gedenktages zu aktualisieren.

Projektbearbeiterin: PD. Dr. Sabine Kienitz
Bayerisch-pfälzisch-reichsdeutsch-französisch. Die Pfalz unter französischer Herrschaft und die Frage der nationalen (Des-)Integration (1918-1930)
(Projektbereich B: Grenzräume und Kriegserfahrungen)

Das Projekt steht im Kontext von Fragen der territorialen Neuordnung und der nationalen (Des-)Integration als direkte Folge des Ersten Weltkrieges und der deutschen Niederlage. Konkret geht es dabei um die militärische Okkupation der Pfalz durch Frankreich zwischen 1918 und 1930 und in deren Folge um die kulturelle Konstruktion einer eigenständigen nationalen bzw. regionalen Identität in dieser politisch umkämpften Grenzregion. Die Frage nach der spezifischen "Kriegserfahrung" stellt sich dabei vor allem als eine Frage nach der Erfahrung politischer und kultureller Fremdherrschaft und militärischer Besatzung dar, die nach 1918 nicht nur den Alltag der Bevölkerung bestimmte, sondern auch die Erinnerungen an Kriegs- und Besatzungserfahrungen im 17. Jahrhundert als Kernbestandteil des kulturellen Gedächtnisses in der Region aktualisierte.
Das Projekt beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Frage, welche kulturellen Folgen die französische Okkupation für den "Nationalgeist" der Bevölkerung in den besetzten Gebieten hatte und welche Konflikte die Besatzung im Hinblick auf das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit der Bevölkerung auslöste. So werden die kulturellen Hilfsmittel untersucht, mit deren Hilfe eine nationale (deutsche) bzw. regionale (pfälzische) bzw. eine politisch begründete (bayerische) Identität unter dem Druck der Besatzungssituation konstruiert wurde. Die Selbstzuschreibung nationaler Zugehörigkeit wird dabei als Ergebnis eines kulturellen Prozesses der Nationsbildung verstanden. Im Mittelpunkt stehen zum einen die kulturellen Hegemoniebestrebungen der Besatzer und zum anderen die vielfältigen, z.T. offenen, z.T. subversiven Bemühungen von deutscher Seite, in diesem Kulturkampf' dem Einfluß der als fremd empfundenen französischen Kultur die Idee einer "geschlossenen deutschen Kultur" entgegenzusetzen. Kulturelle Differenzen in den Praktiken des Alltags, so eine erste These, dienten dabei als ein vielfältig verfügbares Medium im Kampf um Abgrenzung und nationale Eigenständigkeit.

Projektbearbeiter Christian Marchetti M.A.:
"Balkan-Expeditionen" und österreichische Volkskunde. Zur Erkundung des "Fremden" und zur "Erfindung" einer Wissenschaft in Österreich-Ungarn
(Projektbereich E: Kriegserfahrungen in den Humanwissenschaften)

Im empirischen Blickpunkt der Untersuchung steht die ethnographische/volkskundliche Erforschung der Balkanhalbinsel durch die frühe österreichische Volkskunde während des 1. Weltkriegs. Die Entstehung der österreichischen Volkskunde ist eng mit dem Balkan verbunden, ihre ersten Institutionalisierungen, sowie ihre frühen Forschungsinteressen gingen Hand in Hand mit der politischen und militärischen Expansion der Habsburgermonarchie nach Südosten.
Die Untersuchung legt ihren Fokus auf die kriegsdienliche Selbstzurichtung der vergleichenden Wiener Volkskunde, die in der von Dr. Arthur Haberlandt durchgeführten historisch-ethnographischen Balkanexpedition durch Bosnien, die Herzegowina, Albanien und Serbien im Sommer 1916 gipfelte. Miteinbezogen werden auch die frühere volkskundliche Bosnienforschung, sowie die von Wien geförderte (versuchte) Institutionalisierung einer bosnischen Volkskunde am Volkskunst-Museum in Sarajewo.
Indem die Untersuchung eine periphere Deutungsagentur (österreichische Volkskunde) und (semi-) periphere Stätten der Wissensproduktion (Wien, Sarajewo) betrachtet, will sie in dem Theoriefeld, welches sich unter den Großbegriffen "Orientalismus" und "Balkanismus" aufspannt, spezifizierend wirken. Indem die reisende und sammelnde, schreibende und ausstellende Form der volkskundlichen Auseinandersetzung mit dem Fremden als soziale Praxis analysiert und kontextualisiert wird, soll ihr Beitrag zur Konstruktion des ontologischen und epistemologischen Balkanbildes erfasst werden. Ziel ist der Nachvollzug eines komplexen Zusammenhangs von Kriegserfahrung, Humanwissenschaft und Modernität.

Projektbearbeiterin: Dr. des. Monique Scheer
"Wie nie zu anderer Zeit". Ethnographie und Anthropologie in Kriegsgefangenenlagern des 1. Weltkriegs
(Projektbereich E: Kriegserfahrungen in den Humanwissenschaften)

Das Kriegsgefangenenlager als "Laboratorium" - eine geradezu ideale Forschungssituation - so empfand es der Wiener Anthropologe Rudolf Pöch, der von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften mit der physisch-anthropologischen Datenerhebung unter gefangenen Alliierten Truppen 1915 beauftragt wurde. In den Lagern war eine noch nie zuvor im europäischen Krieg erlebte Vielfalt von Ethnizitäten an einem Ort vertreten, da England und Frankreich Soldaten auch aus ihren Kolonien rekrutierten und das russische Heer über Bevölkerungsgruppen vom Schwarzen Meer bis an den Pazifik verfügte. Hier konnte sich der "Menschenforscher" die Kosten und Mühen einer Feldforschungsreise ersparen und mußte sich nicht mit uneinsichtigen Studienobjekten abmühen, da Gefangene den vom Kommando unterstützten Wissenschaftlern zu Gehorsam verpflichtet wurden. Mit dem Verhältnis zwischen Forschern und Zwangsobjekten als Form der Kriegserfahrung befaßt sich zunächst dieses SFB-Projekt.
Aber nicht nur physische Anthropologen machten von Institutionen und Strukturen des Militärapparates Gebrauch, sondern auch Ethnologen, Linguisten und Musikologen nutzen die Gelegenheit, die ihnen die Internierungslager boten. Neben den anthropologischen Körpervermessungen ließen deutsche und österreichische Wissenschaftler die Gefangenen ihre landesüblichen Gesänge, Sprachen, Tänze und handwerklichen Künste vorführen, die mit den neuen Techniken der Audio- und Videoaufzeichnung festgehalten wurden. So konnten sie die kürzlich entstandenen Phonogrammarchive in Berlin und Wien mit empirischem Material versorgen und die Institutionalisierung der Musikethnologie als wissenschaftliches Fach erheblich vorantreiben. Das Projekt untersucht also auch, wie diese Fächer mit den Kriegsgefangenenstudien ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen und das Fach an der Universität etablieren konnten.
Das Hauptaugenmerk der anthropologischen Untersuchungen wurde auf die Rekonstruktion postulierter "Urrassen" gelegt, sowie deren "Mischverhältnis" bei zeitgenössischen Europäern. Mit dieser Fragestellung verflochten waren die Erkenntnisinteressen der sich zwischen evolutionistischen und diffusionistischen Paradigmen bewegenden ethnologischen Fächer, zumal diese Disziplinen institutionell noch nicht getrennt waren. Das Projekt geht schwerpunktmäßig auch der Frage nach, inwiefern die Forschungen im Lager zur Dynamisierung jenes evolutionistisch-rassistischen Wahrnehmung vor allem des "Ostens" im und nach dem Krieg beitrugen.