25.07.2024
Examensfeier der Juristischen Fakultät – niedrigste Durchfallquote landesweit
Im Rahmen der Examensfeier am 25. Juli feierten die Tübinger Absolventinnen und Absolventen der Frühjahrskampagne 2024 den Abschluss des ersten Staatsexamens. Mit einer Durchfallquote von unter 15% erreichte die Fakultät die niedrigste Durchfallquote landesweit. In seinem Festvortrag referierte Prof. Christian Picker zum Thema „Lohngerechtigkeit durch Arbeitsrecht?“
Nach einer musikalischen Einführung durch ein Streichertrio, bestehend aus Maurizio Ruoff, Sebastian Fetzer und Anne Mauz, begrüßte Dekan Prof. Jens-Hinrich Binder alle Absolventen und Absolventinnen, Gäste und Kollegen. Die Fakultät sei stolz, durch eine hochwertige Examensvorbereitung regelmäßig über dem Landesdurchschnitt liegende Ergebnisse erzielen zu können. Einzigartig sei auch das breite Zusatzprogramm, das den Studierenden einen „Blick über den Tellerrand hinaus“ ermögliche. Das Angebot werde kontinuierlich erweitert. Dies sehe man beispielsweise an der erst kürzlich geschlossenen Kooperationsvereinbarung zwischen dem Oberlandesgericht Stuttgart und der Juristischen Fakultät zur Stärkung des Rechtsstaats.
Auch die Präsidentin des Landesjustizprüfungsamtes Sintje Leßner gratulierte den Examinierten zu ihrem Erfolg. Die Welt stehe vor großen Herausforderungen. Mit Krieg, Klimawandel und Digitalisierung komme es zu Fragen nach geeigneten rechtlichen Handlungsinstrumenten. Eine gute Ausbildung sei essenziell, um diesen Fragen nachzugehen und Krisen zu begegnen. Man brauche keine bloßen Rechtsanwender. Die Fähigkeit, gute Argumente zu finden und differenziert Diskussionen zu führen, sei für eine erfolgreiche Mitgestaltung des Rechtsstaats unbedingt erforderlich.
Anschließend gewährte Leßner dem Publikum einen Einblick in die Notenstatistik. Mit einem Durchschnitt von 5,81 Punkten erreichten die Tübinger Kandidaten und Kandidatinnen wieder ein über den Landesdurchschnitt liegendes Ergebnis. Zudem hat die Tübinger Fakultät mit einer Durchfallquote von unter 15 % die niedrigste Durchfallquote landesweit.
In seinem Festvortrag referierte Prof. Christian Picker zum Thema „Lohngerechtigkeit durch Arbeitsrecht?“ Die Frage nach dem gerechten Lohn sei schon immer politisch kontrovers umstritten gewesen. Schon das Neue Testament habe beispielsweise im Gleichnis der Arbeiter im Weinberg versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Doch welche Instrumente sieht das Arbeitsrecht für einen angemessenen Lohn vor? Zentral sei hier der auf den Grundsatz der Privatautonomie geschlossene Arbeitsvertrag. Er bewirke einen Ausgleich der Interessen. Der Lohn sei deshalb gerecht, weil er ausgehandelt wurde. Die „Richtigkeitsgewähr“ setze allerdings voraus, dass die Parteien annähernd gleich stark sind. Das Elend der Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert beweise, wozu es bei großer struktureller Imparität zwischen Arbeiternehmer und Arbeitgeber kommen könne. Heutzutage habe der Facharbeiter aufgrund des großen Facharbeitermangels allerdings eine starke Verhandlungsposition, sodass hier keine Funktionsunfähigkeit des auf der Vertragsfreiheit beruhenden Arbeitsrechts drohe. Anders sei es im Niedriglohnsektor. Die Agenda 2010 habe die Arbeitslosigkeit zwar deutlich gesenkt und einen für das Ziel der Vollbeschäftigung unverzichtbar dynamischen Niedriglohnsektor gesorgt, aber dabei auch ein Überangebot geschaffen. Dies habe zu einer Marktschwäche des Faktors „Arbeit“ geführt. Das primäre Instrument für die Schaffung eines gerechten Lohns sei in solchen Fällen der Tarifvertrag, so der Referent. Der einzelne Arbeitnehmer sei allein zwar schwach, im Zusammenschluss mit anderen als Gewerkschaft, die dem Arbeitgeber als starker Vertragspartner auf Augenhöhe begegnen und faire Löhne für die Arbeitnehmer aushandeln könne, aber stark. Allerdings könne auch die Tarifautonomie versagen, wenn sich keine oder nur wenige und schwache Gewerkschaften bilden. Dies habe zu Schutzlücken geführt, die der Gesetzgeber durch Schaffung des allgemeinen, flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns habe schließen wollen. Ist ein einheitlicher Mindestlohn aber überhaupt verfassungskonform? Diese Frage müsse auf den ersten Blick klar mit „nein“ beantwortet werden. Die freiheitlich, also marktwirtschaftlich verfasste Rechts- und Wirtschaftsordnung sehe die Bestimmung des Lohns durch die Privatautonomie und nicht durch den Staat vor. Der Mindestlohn sei daher ein massiver und damit rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff. Die Rechtfertigung setze ein legitimes Ziel, die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der Maßnahme voraus. Das postulierte Ziel sei ein angemessener Lohn zum Schutze des Existenzminimums. Die Verfassung garantiere zwar den Schutz des Existenzminimums, begründe allerdings keine Pflicht für den Arbeitgeber. Der Arbeitgeber dürfe nicht zum Unterhaltsschuldner gemacht werden. Die Verantwortung liege beim Staat. Die soziale Bedürftigkeit sage darüber hinaus nichts über den Wert der Arbeit aus. Folglich sei der Schutz des Existenzminimums kein den Mindestlohn legitimierendes Ziel. Als legitimes Ziel komme auch der Schutz vor einem Lohnunterbietungswettbewerb in Betracht. In bestimmten Branchen, wie beispielsweise der Fleischindustrie, habe der einzelne Arbeitgeber vor Einführung des Mindestlohns die Löhne senken müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben und die eigene wirtschaftliche Existenz nicht zu gefährden. Ursächlich für das „Lohndumping“ sei hier nicht der Wunsch nach Bereicherung oder geringe Produktivität der Arbeitsleistung, sondern strukturell bedingtes Marktversagen gewesen. Zum Schutz der sozialen Sicherungssysteme und der materiellen Vertragsfreiheit rechtfertige diese Art des Marktversagens den Mindestlohn als kartellierende Intervention in Teilbereichen des Marktes. Die Festlegung der systemimmanenten Grenzen eines verfassungskonformen Mindestlohns gestalte sich allerdings als komplex, da es in der Praxis schwer feststellbar sei, ob niedrige Löhne auf einen Lohnunterbietungswettbewerb oder geringe Produktivität der erbrachten Arbeitsleistung zurückzuführen seien.
Zusammenfassend stellte Picker fest, dass der Mindestlohn nur als Notlösung in Betracht komme. Statt staatlicher Fremdhilfe brauche man mehr kollektive Selbsthilfe durch eine Stärkung der Tarifautonomie. Wie aber eine Revitalisierung der Tarifautonomie – generell und nicht nur im Niedriglohnsektor – erreicht werden kann, das sei das ungelöste Problem unserer Arbeitswelt.
Der Studierendensprecher Nikita Estreich bedankte sich in seiner Ansprache zunächst bei Binder in Anbetracht des nahenden Endes seiner Amtszeit als Dekan für dessen Engagement und die produktive Zusammenarbeit. Estreich gratulierte allen Absolventinnen und Absolventen im Namen der Fachschaften und der Studierendengemeinschaft und rief zum Dank an alle Freunde und Familienmitglieder für ihre Unterstützung während der langen und anstrengenden Examensvorbereitung auf.
Im Anschluss an die Überreichung der Urkunden an die Absolventen und Absolventinnen des LL.M.-Jahrgangs folgte die Verleihung des Examenspreises der Juristischen Gesellschaft. Preisträger und Examensbester in Tübingen wurde Felix Sponer mit einer Gesamtnote von 12,81 Punkten. Abschließend wurden auch den anderen Tübinger Absolventen und Absolventinnen der ersten juristischen Staatsprüfung die Examensurkunden überreicht.
Text: Laura Anger
Fotos: STUDIO PHOTO SCHNEIDER