Katastrophenethik: Was sie umfasst und warum sie wichtig ist.
von Friedrich Gabel, Marcel Vondermaßen, Katharina Wezel
Warum braucht es eine Katastrophenethik und was umfasst sie?
Im März diesen Jahres erschien das Buch „Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“ von Nikil Mujerji und Adriano Mannino. Kernthese des Buches: Insbesondere die Ethik müsse sich in Zeiten großer Unsicherheit, wie in der derzeitigen Pandemie, zu den Herausforderungen äußern, um das Feld nicht anderen, scheinbar praktischeren Disziplinen zu überlassen (Mujerji/Mannino 2020, S. 15ff.). Sie fordern eine Philosophie, die das Diktat der Katastrophe – fehlende Informationen und fehlende Zeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit zu Entscheiden – anerkennt und sich verantwortungsvoll der Bearbeitung philosophischer Fragestellungen zuwendet, die Grundsätze ihrer Arbeit an die gegebene Situation anpasst (ebd. S. 105-108) und für eine ständige Neujustierung offen ist (ebd. S.20). Damit einhergehend formulieren sie Grundzüge einer Methode ethischer Entscheidungsfindung in Katastrophen. Dies ist wichtig, damit ethische Aspekte in Prozesse politischer Entscheidungsfindung, auch in Situationen faktischer und zeitlicher Unsicherheit, berücksichtigt werden. Was sie weniger thematisieren ist, was genau diese ethischen Aspekte im Umgang mit Katastrophen sind, inwieweit also Katastrophen selbst Gegenstand ethischer Betrachtung sein können und sein sollten. Hierfür möchte der folgende Beitrag einen Denkanstoß geben. Durch die Skizzierung von drei (zumindest analytisch trennbaren) Arbeitsfeldern soll dargestellt werden, an welchen Stellen eine ethische Expertise für eine Beschäftigung und Bewältigung von Katastrophen wichtig ist und inwieweit all diese Themen ethischer Forschung auch im eingangs genannten Beispiel sichtbar werden.
Ethische Aspekte der Maßnahmen zur Bewältigung von Katastrophen: Welche (neuen) wertbezogenen Fragen wirft die Bewältigung von Katastrophen auf?
Der wohl naheliegendste Gegenstand einer ethischen Perspektive auf Katastrophen sind jene wertebezogenen Fragestellungen, die uns in Katastrophen begegnen. Zudem geht es um die Betrachtung ethischer Aspekte praktischer Lösungen für die Bewältigung von Katastrophen. Was sind Gründe für eine besondere Betroffenheit von Menschen in Katastrophen und (wie) lässt sich diese ethisch rechtfertigen? Was ist zum Beispiel mit Blick auf eine gerechte Verteilung von begrenzten Ressourcen zu berücksichtigen? Wie lässt sich Sicherheitsverantwortung in Katastrophen fair verteilen?
Mit Blick auf das Eingangsbeispiel stellt sich hier etwa die Frage, unter welchen Bedingungen sich der Einsatz von Häftlingen bei der Brandbekämpfung angesichts begrenzter Ressourcen des Staates ethisch rechtfertigen ließe? Diese Frage ist insbesondere deshalb interessant, weil bis zu einer Gesetzesänderung am 11.09.2020 zwar die Feuerbekämpfung als Häftling möglich war, die damit einhergehende Ausbildung für viele Häftlinge in den USA nach ihrer Haft allerdings nutzlos war, da schwerere Straftaten Ex-Häftlinge von der Arbeit als Feuerbekämpfer*innen in Kalifornien ausschlossen. Hier wäre zu überlegen, ob die Ermöglichung einer Jobperspektive nicht ein überzeugendes ethisches Kriterium für ihre Einbindung in die Katastrophenhilfe sein könnte.
Ethische Aspekte des gesellschaftlichen Handelns in Katastrophen: Rechtfertigen katastrophale Situationen andere Wertmaßstäbe für unser Handeln?
Ein zweites Themenfeld betrifft die Frage, inwieweit Katastrophen mit Wertmaßstäben des Alltags zu bewältigen sind. Braucht es eine eigene „Ethik der Katastrophe“ mit vom Alltagshandeln abweichenden Wertemaßstäben und wenn ja, welche Grenzen dürfen dabei nicht überschritten werden? Sollte beispielsweise angesichts der dramatischen Folgen von Katastrophen eher auf die Auswirkungen von Handlungen (Konsequentialismus) als auf die Intentionen und Pflichten der Handelnden (Deontologie) wert gelegt werden? Wer bestimmt wann und auf welcher Grundlage ein Wechsel von Wertmaßstäben vollzogen wird und wann dieser ethisch zu rechtfertigen ist? Welche Kriterien gibt es, um wieder in den Alltag überzugehen? Solche Fragestellungen werden besonders dringlich in ethischen Dilemmasituationen. Hier ist es nötig, die (eigenen) Wertvorstellungen offenzulegen und (gemeinsam) über mögliche Handlungsweisen und deren Begründbarkeit zu diskutieren. Hierbei ist der Verweis auf die legitimatorische Kraft von Katastrophen wichtig, denn durch die Art und Weise, wie wir über Katastrophen diskutieren, sie definieren und beüben, schaffen wir selbst den Rahmen, innerhalb dessen wir ethisch bedeutsame Entscheidungen fällen. In diesem Sinn sollte stets kritisch nach der Angemessenheit der Wertmaßstäbe gegenüber der tatsächlich vorzufindenden Situation gefragt werden.
Käme eine ethische Betrachtung beispielsweise zu dem Schluss, dass der Einsatz unterbezahlter Häftlinge als reguläre Feuerwehrmänner gegen die jährlich auftretenden Brände nicht zu rechtfertigen wäre, würde dies auch gelten, wenn die Brände katastrophale Ausmaße annähmen? Wenn Letzteres aber zu rechtfertigen wäre, etwa um viele Leben zu retten, wer entschiede wann und wie lange Häftlinge gegen das Feuer eingesetzt werden dürften, welche Bezahlung angemessen wäre und wer diesen Lohn bezahlt?
Ethische Aspekte der Betrachtung des Phänomens der Katastrophe: Wer oder was wird durch die Art und Weise wie über Katastrophen gesprochen wird (un)sichtbar?
Eng verbunden mit der Betrachtung von Handlungsmaßstäben in Katastrophen, aber oft vernachlässigt, ist schließlich die kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Katastrophe selbst und der Frage von wem und warum Phänomene als Katastrophe interpretiert werden. Der ethische Blick kann hier helfen, Machtkonstellationen sowie Deutungshoheiten aufzuzeigen und möglicherweise (un)gerechte (Un)Sichtbarkeiten von oder Aufmerksamkeiten gegenüber Ereignissen oder sozialen Gruppen zu problematisieren. Auch geht es darum Verantwortungskonstellationen zu hinterfragen, beispielsweise: In welchem Maße hat menschliches Handeln einen Anteil an der Entstehung von Katastrophen und welche Verantwortung ergibt sich daraus für deren Folgen? Schließlich lässt sich hier nach dem gesellschaftlichen Stellenwert von Katastrophenvorsorge fragen.
Im Falle der kalifornischen Waldbrände führt das einerseits zu der Frage, inwieweit der Katastrophenschutz überhaupt gegenstandsangemessen kalkuliert wird, wenn es der Hilfe durch Gefängnisinsass*innen bedarf. Ist diese Fehlplanung damit womöglich selbst ein Grund für die Entstehung von Waldbrandkatastrophen? Andererseits treffen in diesem Fall vier Ereignisse aufeinander: Waldbrände, die Pandemie, die ausbeuterische Gefängniswirtschaft sowie, versteckt, Rassismus, der dazu führt, dass überproportional people of colour im Gefängnis sind. Jedoch werden klassischerweise nur zwei von ihnen als „Katastrophen“ verhandelt. In Hinblick auf den besonderen legitimatorischen Gehalt einer Rede von Katastrophen sowie dem damit einhergehenden Handlungsdruck, ließe sich etwa fragen, inwieweit nicht Rassismus und Ausbeutung ähnliche Aufmerksamkeit erhalten sollten. Wenngleich beide Phänomene zeitlich entzerrter und nicht lokal begrenzt sind, überschreitet die Bewältigung ihrer Folgen gesellschaftliche Kapazitäten und führen zu großen Opferzahlen.
Sowohl die aktuellen Diskussionen im Zuge der Corona-Pandemie als auch das Beispiel der kalifornischen Feuerwehr führen vor Augen, dass extreme Ereignisse und Katastrophen Gesellschaften nicht nur vor zahlreiche schwierige Entscheidungen und Dilemmasituationen stellen, sondern etliche weitere ethische Fragen aufwerfen, die im Sinne von Mujerji und Mannino thematisiert und diskutiert werden sollten; und zwar in Katastrophen oder besser noch bevor es überhaupt soweit kommt. Eine Katastrophenethik bietet hierfür Werkzeuge, um diese Situationen nicht nur zu benennen, sondern auch zu bearbeiten und wertbezogene Empfehlungen zu geben. In Deutschland hat, auch aufgrund der Seltenheit von Katastrophen, eben diese ethische Beschäftigung bisher kaum stattgefunden. Dies führt dazu, dass wir viele wichtige ethische Debatten, wie zum Beispiel über die Lastenverteilung in und nach der Katastrophe, inmitten der Pandemie führen müssen. Vor diesem Hintergrund scheint es noch mehr geboten über die oben angerissenen Fragen eine breite Debatte anzuregen. Nur so kann es gelingen auch bei katastrophenethischen Fragen „vor die Lage“ zu kommen.