Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Alltagsintegration und soziale Positionierung von Heft- und Fernsehserien im Rahmen der Forschergruppe "Ästhetik und Praxis populärer Serialität"

Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Forschungsziele
Das Projekt untersucht die Einbindung von Serien-Rezeption in Alltagspraktiken, Fanszenen und andere alltagsnahe Handlungsfelder. Dabei gilt dem Zeichencharakter von Objekten und Praktiken populärer Serialität besondere Aufmerksamkeit: Inwieweit sind Handlungen und Sachen Indikatoren für 'Geschmack'? Wie werden sie als symbolische Mittel der sozialen Positionierung genutzt?

Mit ethnographischem Zugriff fragen wir nach den Positionierungsdynamiken des alltagseingebundenen Erlebens von und Umgangs mit populären Serien. Dazu werden zwei Fallstudien – zu einer Romanheftserie (Perry Rhodan) und zu einer TV-Reihe (Tatort) – vergleichend kombiniert. Das Projekt vergleicht systematisch: Wie werden die genannten Serien genutzt, in Kombination mit welchen anderen Kulturangeboten und in welchen Kontexten? Wie beziehen sich unterschiedliche Typen von Nutzern auf die unterschiedlichen Serialitätsformen der Produkte und wie bauen sie sie in den Alltag ein? Welche praktischen und diskursiven (De-)Legiti­mierungsstrategien werden verfolgt? Wie ist Serialität mit Institutionalisierung und Kanonisierung (Leser- und Zuschauergruppen, Fankultur) verknüpft?

Vergleichender Ansatz
Das Spektrum von Nutzungspraktiken sowie von Nutzer- und Fantypen soll in ganzer Breite herausgearbeitet werden, und zwar in Relation zu differenten Qualitäten der Serien selbst: Welche Praxismuster zeigen sich übergreifend, welche unterscheiden die Publika der beiden Serien? Dazu verfolgen wir im Blick auf die Qualitäten der Serien folgende wesentlichen Variablen:

Das Tübinger Teilprojekt: Perry Rhodan

Laufzeit Oktober 2010 bis September 2013
Leitung Prof. Dr. Regina Bendix, Göttingen
Prof. Dr. Kaspar Maase, Tübingen
Wiss. Mitarbeiterinnen Christine Hämmerling, MA, Göttingen
Mirjam Nast, MA, Tübingen

Vorläufig unterscheiden wir drei Gruppen von Nutzern: "Normalleser" beziehen und lesen Perry Rhodan regelmäßig oder unregelmäßig, kommunizieren auch, eher zufällig und situationsbedingt, über die Serie, gehen aber nicht als "Fan" regelmäßig auf andere Leser zu oder in die Öffentlichkeit. Unter den Fans unterscheiden wir "Normalfans" von "Autorenfans", die etwa mit Fan Fiction, Zeichnungen oder Exposés für neue Serienfolgen auftreten. Unsere Hypothese ist, dass die Serie in der Gesamtheit der Primär- und Sekundärtexte eine Aufforderung zu differenzierter Aneignung enthält, um dem in rund 2.600 Folgen und mehreren Spin-offs entstandenen fiktionalen Universum gerecht zu werden. Wir vermuten dementsprechend ein äußerst weit gespanntes Spektrum der Nutzungsweisen, das von unregelmäßigen Lesern mit sehr restringierter Auseinandersetzung mit der Serie bis hin zu Personen reicht, die sich vom Leser und Fan zum Verlagsautor entwickeln.

Mit allen Teilnehmern werden qualitative, leitfadengestützte, themenzentrierte Interviews geführt. Wesentlicher Bestandteil ist eine Fotodokumentation zur lebensweltlichen Präsenz von Perry Rhodan-Material. Mit Produzenten werden Experteninterviews geführt; sie erschließen die Sicht auf Leser und Fans, auf deren Aktivitäten und ästhetische Präferenzen und ihren Einfluss auf die Serienproduktion. Weiter geht es um die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren, besonders zwischen Autorenfans und Produzenten. Besonders intensive Beobachtung der Fanszene ermöglichen Clubtreffen, Events wie die Buchmesse und Conventions.

DFG-Projekt "Sammeln: Serienhefte zwischen Populärkultur und Kanon" im Rahmen der Forschergruppe "Ästhetik und Praxis populärer Serialität"

Laufzeit Oktober 2010 bis September 2013
Leitung Prof. Dr. Gerhard Lauer, Göttingen
Prof. Dr. Kaspar Maase, Tübingen
Wiss. Mitarbeiterin Sophie Müller, MA, Göttingen

Forschungsziele
Das Projekt untersucht an drei historischen Schnitten den Umgang der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) mit Heftromanserien und die Beziehung zur parallelen Aktivität von Heftromansammlern. Im ersten Querschnitt geht es um die 1912 gegründete Deutsche Bücherei. Deren Sammelauftrag geriet in Konflikt mit der sozialen Exklusion so genannter "Schundliteratur". Der zweite Querschnitt fokussiert exemplarisch den Umgang mit der seit 1961 erscheinenden Heftroman-Serie Perry Rhodan. Wie sammelten die Deutsche Bücherei Leipzig und die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main eine Serie? Wie klassifizierten, katalogisierten, archivierten und machten sie "Kioskliteratur" zugänglich, die auf den ersten Blick kein Buch ist, keinen Autor hat und keinen Werkanspruch erhebt? Der dritte Querschnitt analysiert die Folgen des "Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek" vom 29. Juni 2006. Das Sammeln von Netzpublikationen wirft das Problem auf, wie die digital fließende Serialität von Heftromanen archiviert, zugänglich gehalten und Bestandteil kultureller Selbstverständigung werden kann. Die Aktivitäten der DNB werden in Beziehung gesetzt zu denen organisierter Sammler, die seit den 1960er Jahren wesentliche Aufgaben der nationalliterarischen Erschließung von Heftromanserien übernahmen.

Leitende Hypothesen sind: (1) Mit ihren spezifischen seriellen Qualitäten standen und stehen Romanhefte quer zum Verständnis der DNB von sammlungswürdiger Literatur und zu den entsprechenden Regularien und Praktiken des Sammelns und Erschließens. Der wuchernde, in vieler Hinsicht auf schnellen Verbrauch und Vergänglichkeit, nicht auf Eingang in die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses und des nationalen Archivs angelegte Charakter von Heftserien verfehlte die auf einen anderen Typ von Literatur eingestellten Erwerbungs- und Verzeichnungspraktiken der DNB. Darüber hinaus war die DNB geprägt vom Literaturverständnis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der die Produzenten populärer Serienware über Jahrzehnte ausgrenzte.

(2) Als Folge derartiger Exklusionstendenzen entwickelte sich eine konfliktorisch-komplementäre Beziehung zwischen DNB und Aktivitäten der populären Heftsammlerszene, die v. a. seit den 1960ern zunehmend eigene Formen der Bewahrung, Erschließung und Kanonisierung von Romanheftserien entwickelte.

Im gewählten Feld lassen sich bildungskulturelle und populärkulturelle Akteure in ihren Praktiken und Selbstverständnissen direkt vergleichen. Dabei gehen wir davon aus, dass Perzeption und Gewichtung von Serienliteratur einem historischen Wandel unterworfen sind. In der Gründungsphase spielten Differenzierung und Unübersichtlichkeit der Serien noch eine begrenzte Rolle, und Sammler traten überhaupt nicht als öffentliche Akteure in Erscheinung. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die bildungskulturelle Ausgrenzung zurück, und die Heftverlage pflegten weitgehend die Mainstream-Verhaltensweisen gegenüber der DNB. Aktivitäten aus und in Verbindung mit der Sammlerszene von Serienheften haben seit den 1960er Jahren deutlich zugenommen, ständig neue Aspekte von Heftserien und ihren Autoren wurden erschlossen und aufgewertet.

Arbeitsprogramm
Erster historischer Schnitt: Gründungsphase der Deutschen Bücherei Leipzig
Ausgangspunkt ist der Befund: Die DB Leipzig hat große Bestände an Serienheften aus ihrer Gründungsphase, wenngleich mit erheblichen Lücken und in konservatorisch teilweise beklagenswertem Zustand. Zu untersuchen sind zum einen die dem zugrunde liegende materiale und bibliographische Praxis hinsichtlich Heftserien, zum anderen die Selbstverständigung über Kriterien und Regeln der Auswahl und Katalogisierung innerhalb des Börsenvereins und der Deutschen Bücherei. Soweit möglich, ist auch die Beziehung zwischen Heftverlagen und der DB zu rekonstruieren. Konkret heißt das: Welche Serien sind in welcher Vollständigkeit gesammelt worden? Wie wurden sie in den verschiedenen Katalogen und Bücherverzeichnissen erfasst und eingeordnet? Wie wurden sie aufbewahrt, konservatorisch behandelt und zugänglich gemacht? Was hat die DB unternommen, um Vollständigkeit der Bestände zu erreichen?

Zweiter historischer Schnitt: Umgang mit "Konsum"- und "Kioskliteratur" nach dem Zweiten Weltkrieg
1961 erscheint das erste Heft der SF-Serie Perry Rhodan. Sie startet in einer Umbruchphase der kulturellen Wahrnehmung populärer Serialität; es stellt sich die Frage, ob und wie sich das in der Praxis der DNB niederschlug. Zum anderen ist Perry Rhodan ein ausgezeichnetes Beispiel für jene Form von populärer Serialität, die mit Neuauflagen und wuchernden Kompilationen in wechselnden Formaten, mit der Bildung von Heftzyklen und wechselnden Autoren innerhalb eines Erzählstrangs, im Abspalten von Figuren zu eigenen Serien und mit einem sich unüberschaubar entfaltenden Korpus von Sekundär- und Tertiärtexten aus dem Verlag wie aus dem Netzwerk der Fanaktivitäten der Erfassung und Verzeichnung, dem Aufbewahren und Zugänglichmachen erhebliche Probleme bereitet. Perry Rhodan wird inzwischen in verschiedenen Medien, unter anderem als Hörbuch, Hörspiel und e-book-Datei im Abonnement angeboten – auch dies eine Herausforderung der DNB. Damit stellt sich gegenüber der ersten Untersuchungsphase auf neue Weise die Frage, wie solche Serien gesammelt (oder auch entsorgt), bibliographiert und katalogisiert sowie konserviert und (das kann ein Widerspruch sein) zugänglich gemacht werden. Um die Spezifik dieser "konnexionistischen" Serialität präziser zu fassen, bietet sich ein Vergleich mit der Aufnahme einer relativ geradlinigen Serie wie dem "Heimat-Roman" des Bastei-Verlags an.

Die angestrebten quantitativen und qualitativen Befunde bilden den Ausgangspunkt für ethnographische Recherche. Ziel ist, auf der Basis informeller Gespräche und Beobachtungen in Leipzig sowie in der Deutschen Bibliothek Frankfurt die besondere Organisations- und Arbeitskultur der DNB als System von Einstellungen und Praktiken in ihrer Relevanz für den Umgang mit Heftserien und Serienheften dicht zu beschreiben.

Dritter historischer Schnitt: Gründung der DNB und die Ausrichtung auf Digitalisierung
2006 wird die Deutsche Nationalbibliothek gegründet und ihr Sammelauftrag auf digitale Publikationsformate ausgedehnt. Unser Forschungsinteresse zielt vor allem auf zwei Punkte: (1) Was geschieht mit Serienheften, die bekanntlich besondere konservatorische Probleme aufwerfen, in der Perspektive der Digitalisierung der Bestände? (2) Wie und in welchem Umfang sollen die neuen digitalen Elemente eines Serien-Universums gesammelt, gesichert und zugänglich gemacht werden?

Viertens: Die Heftsammlerszene und die Verankerung von Heftserien im kulturellen Gedächtnis
Im Lauf der 1960er Jahre hat sich die Tätigkeit von Fans und Liebhabern von Heftromanserien schrittweise über das private Sammeln, Tauschen und Kommunizieren hinaus entfaltet. Sammler übernahmen, so unsere Hypothese, zunehmend Aufgaben, die zum Kernbestand der Konstituierung und Archivierung des nationalen Literaturerbes gehören und arbeiteten publizistisch, bibliographisch und historisch an der Aufnahme von Serien und ihren Autoren ins kulturelle Gedächtnis. Sie betreiben damit die Kanonisierung der populären Serien wie auch die soziale Aufwertung und Legitimierung der eigenen Sammel- und Erschließungstätigkeit; teilweise geschieht das in Kooperation mit Heftverlagen.

Zu untersuchen ist, welche Praktiken, Vorstellungen und Ansprüche von Kanonisierung mit diesen Aktivitäten verbunden sind. Wir fragen nach der Interaktion der beiden kollektiven Akteure (Nationalbibliothek und Sammlerszene) in Bezug auf die Archivierung von Heftserien. Schließlich geht es um die Kriterien der 'alternativen' Kanonisierung. Welche Muster der Legitimierung (Konstruktion von persönlich zurechenbaren Werken und Autorenindividualitäten; Aufwertung durch Kritik und wissenschaftliche Befassung usw.) werden in der Sammlerszene praktiziert?

Forschergruppe "Ästhetik und Praxis populärer Serialität"

Zielstellung
Serielles Erzählen gilt als ein Grundmerkmal populärer Ästhetik. In der Forschung werden Serialität und Populärkultur oft derart selbstverständlich miteinander assoziiert, dass kaum mehr gefragt wird, wodurch sich populäre Serien narrativ auszeichnen, welche kulturhistorischen Verhältnisse sie voraussetzen oder unterstützen und wie sich populäre Serialität von seriellen Strukturen in anderen kulturellen Feldern unterscheidet. Die Forschergruppe widmet sich diesen Fragen, indem sie die Formen, Dynamiken und Funktionen seriellen Erzählens spezifisch für die populäre Kultur untersucht. Als Populärkultur wird hierbei ein dominant kommerzielles, explizit massenadressiertes und auf technologische Medien angewiesenes Praxisfeld der Herstellung, Wahrnehmung und Nutzung ästhetischer Artefakte verstanden, das sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst im europäisch-amerikanischen Kulturraum durchsetzt. Unser Ansatz hält auf zweifache Weise Abstand zu bereits etablierten Modellen der Populärkultur und versucht zwischen ihnen zu vermitteln:

(1) Populäre Serialität wird in der vorgeschlagenen Perspektive nicht im Sinn formaler Komplexitätsminderungen oder als Ausdruck ideologischer Verblendungszusammenhänge gefasst. Der Wettbewerbsorientierung industriell produzierter Serienerzählungen soll Rechnung getragen werden, indem wir populäre Serialität als eine Form von Standardisierung und Schematisierung in den Blick nehmen, die gerade aufgrund ihrer hohen Reproduzierbarkeit und ihrer breiten Adressierungsfähigkeit immer neue Variations-, Fortsetzungs- und Anschlussmöglichkeiten generiert, sowohl in formaler als auch in lebensweltlicher Hinsicht..

(2) Die Legitimität populärer Kultur wird dabei nicht auf die clevere Umdeutungsleistung souveräner Rezipienten ausgelagert (wie in zahlreichen Theoriebildungen aus dem Umfeld der Cultural Studies). Die Forschergruppe versteht Popularität weder als reine Produkteigenschaft noch als reine Praxiskonsequenz, sondern als einen historisch sich entfaltenden Interaktionszusammenhang zwischen formal-materialen Beschaffenheiten und kulturellen Positionierungshandlungen. Fragen nach der Faktur, Rezeption und Wirkung kommerzieller Serien werden auf diese Weise integrativ mit Fragen nach der Situierung populärer Serialität im Raum kultureller Distinktionen und Lebensstile verknüpft.

Im ersten Bewilligungszeitraum richtet sich das Erkenntnisinteresse der Forschergruppe an drei Koordinaten aus: der Frage nach der narrativen Arbeit populärer Serialität, der Frage nach den kulturhistorischen Dynamiken und Konsequenzen populärer Serialität; der Frage nach der Unterscheidung kultureller Felder, gegenüber denen populäre Serialität sich abgrenzt bzw. abgegrenzt wird und mit denen sie in Legitimierungs- und Delegitimierungsprozessen interagiert (kanonisierte Bildungskultur, Avantgarde, Volks- oder Popularkultur usw.).

Mitglieder
Prof. Dr. Regina Bendix, Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie, Göttingen
Prof. Dr. Frank Kelleter, Seminar für Englische Philologie, Nordamerikastudien, Göttingen (Sprecher)
Prof. Dr. Gerhard Lauer, Seminar für Deutsche Philologie, Neuere Deutsche Literatur, Göttingen
Prof. Dr. Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen
Prof. Dr. Ruth Mayer, Englisches Seminar, American Studies, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Prof. Dr. Claudia Stockinger, Seminar für Deutsche Philologie, Neuere Deutsche Literatur, Göttingen

Laufzeit der ersten Bewilligungsphase: Oktober 2010 bis September 2013