Dr. Marianne Seidig
Augenlust und -laster. Zum Wissen der Bilder bei Giovanni Bellini und Umkreis
Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat man den Werken des venezianischen Malers Giovanni Bellini (1430?-1516) ob ihrer Schönheit und Frömmigkeit das Potential zugesprochen, Gefühle der Andacht zu erwecken, und damit in besonderer Weise eine der Aufgaben zu erfüllen, die den christlichen Bildern seiner Zeit von Seiten der Kirche zugedacht war. Neben einem emotional ansprechenden Erscheinungsbild wurden den Darstellungen Bellinis jedoch auch eine Reihe von visuellen Eigenheiten attestiert, die den kirchlicherseits propagierten Vorgaben nicht unbedingt entsprachen: Hatten katholische Bildtheoretiker den italienischen Malern spätestens zu Zeiten der Gegenreformation abverlangt, die Veranschaulichung religiösen Wissens in Bildern durch eine größtmögliche darstellerische Eindeutigkeit zu begünstigen, schien Bellini nicht wenige seiner Altar- und Andachtsbilder mit ästhetischen und semantischen Ambivalenzen zu versehen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters vom Dargestellten auf den Aspekt der Darstellung lenken und ein eindeutiges Verständnis des je Gezeigten erschweren. Einer Grundannahme des Dissertationsvorhaben zufolge werden dadurch nicht nur die Grenzen des Darstellbaren, sondern auch die Grenzen des Wissbaren reflektiert, muss den Bildern neben der medienreflexiven auch eine epistemische Dimension zugesprochen werden. Am Beispiel ausgewählter Werke der venezianischen Renaissancemalerei soll daher gefragt werden: Wie kann das Wissen dieser Bilder konkreter beschrieben und gefasst werden? Auf welche Weise bzw. mit welchen visuellen Strategien suchen die Bilder Bellinis dem Betrachter religiöse Gehalte zu vermitteln? Werden diese Strategien von den im Umkreis Bellinis tätigen Malern aufgegriffen? In welchem Verhältnis steht das Wissen der Theologie in den Bildern aufgespeicherte, christliche Wissen zum textuell gefassten ? Und was zeichnet dieses im Unterschied zur sprachlichen Formation theologischen Wissens qualitativ aus? Ziel dieser Untersuchung ist, eine Reihe bisher weitgehend unerforschter Bilder der venezianischen Renaissancemalerei erstmals theoretisch zu erschließen, und im selben Zug einen Beitrag zur Beantwortung der Fragen zu leisten, die in der Kunst- und Wissensgeschichte aktuell diskutiert werden.