Institut für Soziologie

Hat sich die soziale Anerkennung von Berufsgruppen während der Corona-Pandemie verändert?

Erste Befunde aus dem BMAS-FIS-Projekt ‘Corona-Krise und berufliche Anerkennung’

Unter dem Stichwort “Systemrelevanz” ist mit der Corona-Krise die bereits länger schwelende Diskussion um die Wertschätzung, Anerkennung und Sichtbarkeit der Leistungen bestimmter Berufsgruppen für die Gesellschaft in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Während das gesellschaftliche Leben zeitweise massiv heruntergefahren wurde, waren zur Pandemiebekämpfung und Versorgung der Bevölkerung relevante Bereiche von diesen Einschränkungen durch Sonderregelungen ausgenommen. Zu einem guten Teil fiel in diesen Bereichen während der Corona-Krise sogar wesentlich mehr Arbeit an. Die Kategorie “Systemrelevanz” wurde dabei häufig verwendet, um die Ungleichbehandlung von Berufsgruppen im Kontext der Pandemiebekämpfung zu begründen. Hinzu kam der Eindruck, dass gerade in den systemrelevanten Berufsgruppen der Arbeitsalltag von geringer Bezahlung und Anerkennung geprägt ist, woraus sich Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen ableiten lassen. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, inwieweit Erwerbstätige in systemrelevanten Berufen im Vergleich zu anderen Berufen unterschiedliche Wertschätzung im Sinne “objektiver” Maßstäbe wie zum Beispiel ihrer Entlohnung erfahren, und inwiefern sie sich subjektiv unterschiedlich anerkannt fühlen? Zudem ist von Interesse, wie sich verschiedene Formen von Anerkennung durch die Corona-Pandemie verändert haben?

Die Untersuchung dieser Fragen bildet einen Kernbestandteil des BMAS-FIS-Forschungsprojekts “Corona-Krise und berufliche Anerkennung”. Erste Ergebnisse auf Basis eines von uns im Februar und März 2021 durchgeführten Onlinesurveys dazu präsentieren wir im Folgenden. Die Stichprobe umfasst 3,102 Erwerbstätige und ist repräsentativ für die Erwerbsbevölkerung in Deutschland.

Gesellschafliche Leistungen und damit auch “Systemrelevanz” können unterschiedlich aufgefasst werden. Einerseits wird darunter “Versorgungsrelevanz” im Sinne von Tätigkeiten, die “für die Grundversorgung der Bevölkerung, das staatliche Gemeinwesen und die öffentliche Sicherheit mittelfristig erforderlich” (Burstedde et al. 2020, S.4) sind, verstanden. Andererseits bezieht sich der Begriff auf Tätigkeiten, die der Eindämmung der Corona-Pandemie dienen, oder besonders bedeutsame gesellschaftliche Leistungen erbringen, indem sie zum Erhalt der physischen und psychischen Gesundheit oder der Entwicklung des Humankapitals von Menschen beitragen, oder besonders bedeutsame wirtschaftliche Leistungen erbringen. Subjektive Einschätzungen zur Systemrelevanz von Berufen - an die dann auch subjektive Bewertungen zur Anerkennung von Tätigkeiten anknüpfen - können in unterschiedlichem Ausmaß auf diesen verschiedenen Sichtweisen aufbauen. Um diese verschiedenen Blickwinkel zu berücksichtigen, gruppieren wir unsere Stichprobe zum einen nach Versorgungsrelevanz im Sinne des “Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA)” des Instituts der deutschen Wirtschaft (Burstedde et al. 2020, im Folgenden “objektive Systemrelevanz” genannt), zum anderen auf Basis der subjektiven Selbsteinordnungen der Befragten.

Systemrelevanz

Abbildung 1 zeigt die Häufigkeitsverteilung einer kombinierten Kategorisierung nach objektiver und subjektiver Systemrelevanz. Zunächst zeigt sich, dass 10% der Befragten ihre berufliche Tätigkeit nicht anhand des Kriteriums Systemrelevanz einordnen (Kategorie NA, s. Abbildung 1a) und ungefähr 13% nach der KOFA-Klassifikation nicht objektiv zugeordnet werden können (Kategorien obj. unklar, s. Abbildung 1b). Liegen sowohl objektive wie subjektive Zuordnungen vor, dann zeigt sich eine überwiegend übereinstimmende Kategorisierung. 38% der Befragten sind sowohl objektiv als auch subjektiv systemrelevant eingeordnet, 26% der Befragten weder noch (Kategorie nicht).

Bei den restlichen Fällen divergieren objektive und subjektive Einordnung. 24% der Befragten halten sich für subjektiv systemrelevant, sind es nach dem verwendeten objektiven Schema aber nicht, 13% sind es objektiv, halten sich allerdings subjektiv nicht für systemrelevant. Es wird im Folgenden auch untersucht, inwieweit sich diese “Fehlwahrnehmungen” auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Anerkennung auswirken.

Abbildung 1a: Subjektiv eingeschätze Systemrelevanz

Abbildung 1b: Objektiv zugeschriebene Systemrelevanz

Anerkennung

Wie verhält es sich nun mit der Anerkennung dieser Gruppen? Anerkennung kann sich unterschiedlich ausdrücken. Zum einen durch Berücksichtigung im gesellschaftlichen Diskurs und bei politischen Maßnahmen, zum anderen auch im direkten Arbeitsumfeld durch die Arbeitsbedingungen, die Wertschätzung der Vorgesetzen und Mitarbeitenden - und nicht zuletzt auch durch die Bezahlung. Gerade an diesem Punkt wurde im Zuge der öffentlichen Debatte auf eine Diskrepanz zwischen hohem Arbeitsaufwand unter großer Belastung und Verantwortung auf der einen Seite sowie geringer Bezahlung auf der anderen Seite hingewiesen. Davon ausgehend wäre zu erwarten, dass insbesondere systemrelevante Berufe durch eine geringere wahrgenommene Anerkennung gekennzeichnet sind.

Wir möchten die genannten verschiedenen Aspekte von Anerkennung beruflicher Tätigkeiten im Folgenden miteinbeziehen, indem wir uns einerseits die subjektiven Einschätzungen der Befragten und andererseits deren Auskünfte zu ihrem Haushaltseinkommen anschauen. Hinsichtlich aller Indikatoren betrachten wir zum einen ihre gegenwärtige Ausprägung, zum anderen wahrgenommene Veränderungen im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie. Zur Messung der subjektiven Anerkennung wurden verschiedene Informationen zur Berücksichtigung der eigenen Anliegen und der Wahrnehmung und Wertschätzung der eigenen Leistungen sowohl im öffentlichen Diskurs bezogen auf den Beruf (im Folgenden “gesellschaftliche Anerkennung” genannt), als auch bei der konkreten beruflichen Tätigkeit (im Folgenden “Anerkennung im Arbeitsumfeld” genannt) erfragt und zu einem kombinierten metrischen Indikator (“Faktorscores”) zusammengefasst.

Ergebnisse

Die Ergebnisse werden mit Boxplots der Häufigkeitsverteilungen dargestellt. Die Rechtecke umfassen dabei den Abstand zwischen den niedrigsten 25% und höchsten 25% der Beobachtungen (Interquartilsabstand). Die Linien kennzeichnen Beobachtungen im Bereich des 1,5-Fachen dieses Abstands und Werte außerhalb dieser Spannweite werden durch einzelne Punkte dargestellt. Weiterhin fokussieren wir uns in den folgenden Darstellungen auf diejenigen Personen (77% der Befragten), die bezüglich subjektiver und objektiver Systemrelevanz klassifiziert werden konnten.

Abbildung 2a zeigt, dass in der Tat Personen, die ihre berufliche Tätigkeit als systemrelevant einschätzen, eine geringere gesellschaftliche Anerkennung wahrnehmen. In diesen beiden Gruppen (“nur subj.” und “obj.+subj.”) liegt der Schwerpunkt der Verteilung auf einem niedrigeren Wert. Das gilt insbesondere für die Personen, die sowohl nach objektiven Kriterien als auch nach der Selbsteinschätzung als systemrelevant eingestuft wurden.

Als Nächstes schauen wir uns an, wie sich die eben beschriebene gesellschaftliche Anerkennung der Berufe im Zuge der Corona-Pandemie verändert hat. Hier zeigt Abbildung 2b einerseits, dass viele Befragte hier keine substanzielle Veränderung wahrnehmen, da der Interquartilsabstand (die Breite der Rechtecke) viel geringer ist als in Abbildung 2a. Andererseits verdeutlicht Abbildung 2b, dass nur die Gruppe, die sowohl subjektiv als auch objektiv als systemrelevant kategorisierte berufliche Tätigkeiten ausführt, klare Zuwächse an gesellschaftlicher Anerkennung wahrnimmt. Betrachtet man diesen Befund in Kombination mit der insgesamt vergleichsweise niedrigen wahrgenommenen gesellschaftlichen Anerkennung dieser Gruppe, so lässt sich daraus schließen, dass diese Gruppe sich vor der Corona-Krise eher noch geringer gesellschaftlich anerkannt fühlte, und im Verlauf der Krise von diesem niedrigen Niveau ausgehend an wahrgenommener gesellschaftlicher Anerkennung hinzugewonnen hat.

Hinsichtlich der Anerkennung im Arbeitsumfeld verdeutlicht Abbildung 3a zunächst, dass die Einschätzungen der Befragten hier uneinheitlicher sind als im Bezug auf die gesellschaftliche Anerkennung ihrer beruflichen Tätigkeit, denn der Interquartilsabstand ist in allen Gruppen in Abbildung 3a größer als in Abbildung 2a. Im Vergleich der Gruppen finden sich keine nennenswerten Unterschiede. Allenfalls ist in der Gruppe, die nur objektiv als systemrelevant kategorisiert wird, sich subjektiv aber nicht so wahrnimmt, die empfundene Anerkennung im Arbeitsumfeld etwas geringer.

Abbildung 3b zeigt zunächst, dass die meisten Befragten keine größere Veränderung ihrer im Arbeitsumfeld wahrgenommenen Anerkennung berichten. Dies korrespondiert mit dem in Abbildung 2b dargestellten Befund hinsichtlich der Veränderung der gesellschaftlichen Anerkennung im Zuge der Corona-Krise. Allerdings zeigt Abbildung 3b auch, dass die Personen, die ihre berufliche Tätigkeit subjektiv als systemrelevant einschätzen, tendeziell eine Verbesserung ihrer Anerkennung im Arbeitsumfeld im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie wahrnehmen. Im Unterschied zur gesellschaftlichen Anerkennung findet sich diese positive Veränderung hinsichtlich der Anerkennung im Arbeitsumfeld allerdings auch in der Gruppe, die nur auf Basis ihrer subjektiven Einschätzung und nicht objektiv als systemrelevant eingestuft wurde.

Nun wenden wir uns der finanziellen Situation der Befragten zu. Wir betrachten dazu das nettoäquivalente Haushaltseinkommen pro Monat nach dem neuen OECD-Schema, dass heißt die entsprechend der Anzahl an Erwachsenen und Kindern im Haushalts gewichteten Haushaltseinkommensauskünfte der Berfragungspersonen. Um eine Verzerrung der Darstellung durch sehr hohe Werte zu vermeiden, zeigt Abbildung 4a die Haushaltseinkommensverteilungen bis 5000 Euro pro Monat. 32 Personen berichteten ein höheres Haushaltseinkommen und 11% der Befragten gaben keine Auskunft dazu.

Abbildung 4a verdeutlicht zum einen, dass Personen in den Berufsgruppen, die objektiv als systemrelevant kategorisiert wurden, tendenziell über ein leicht höheres monatliches Haushaltseinkommen verfügen. Zum anderen zeigt sich, dass der Interquartilsabstand in diesen Gruppen größer ist, was eine größere Streuung der Haushaltseinkommen in diesen Gruppen belegt. Das in jüngerer Zeit verbreitete Bild, dass “Systemrelevanz” mit “Niedrigem Einkommen” gleichzusetzen wäre, können wir - bezogen auf das Haushaltseinkommen - allerdings nicht bestätigen.

Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob und wie sich das monatliche Haushaltseinkommen der Befragten durch die Corona-Pandemie verändert hat? Diese Information wurde kategorial erhoben und die daraus resultierenden Verteilungen sind in Abbildung 4b dargestellt. Etwa 2% der Personen konnten zu dieser Frage keine Auskunft geben. Abbildung 4b zeigt zunächst, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten in allen Gruppen keine Veränderung ihres Haushaltseinkommens berichtet, und wenn Veränderungen berichtet werden, dass es sich zumeist um Verluste handelt. Eine Erhöhung des Haushaltseinkommens durch die Corona-Krise gab es nur äußerst selten. In der Berufsgruppe, die weder objektiv, noch subjektiv als systemrelevant kategorisert wurde, sind Personen am häufigsten von Haushaltseinkommensverlusten im Zuge der Corona-Pandemie betroffen (37% der Befragten). Im Vergleich dazu fällt dieser Anteil mit circa 16% bei der Gruppe der sowohl objektiv als auch subjektiv Systemrelevanten deutlich geringer aus.

Diese ersten Analysen legen einige Schlussfolgerungen im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der Systemrelevanz beruflicher Tätigkeiten und deren Anerkennung nahe.

Erstens spielt bei Unterschieden in der finanziellen Situation vor allem die objektive Systemrelevanz eine Rolle, während bei der wahrgenommenen Anerkennung im Arbeitsumfeld die subjektive Systemrelevanz die größere Bedeutung hat. Für die wahrgenommene gesellschaftliche Anerkennung sind beide Sichtweisen von Systemrelevanz von Bedeutung.

Zweitens wird die gesellschaftliche Anerkennung einheitlicher wahrgenommen als die Anerkennung im Arbeitsumfeld. Dies ist aufgrund der stärkeren Ausdifferenzierung individueller Arbeitsbedingungen erwartbar.

Drittens haben systemrelevante Tätigkeiten im Zuge der Corona-Krise tendenziell an wahrgenommener Anerkennung sowohl gesellschaftlich als auch im Arbeitsumfeld hinzugewonnen. Die umfangreiche Debatte um die hohe Bedeutung dieser Berufe ist insofern “angekommen”. Und dennoch: Personen, die systemrelevante Berufe ausüben, stehen immer noch ganz unten in der “Anerkennungshierarchie”.

Viertens lässt sich nicht bestätigen, dass Befragte mit systemrelevanten Tätigkeiten tendenziell schlechter gestellt sind in Bezug auf ihre finanzielle Situation. Zudem zeigen sich weniger finanzielle Verluste bei Personen in systemrelevanten Tätigkeiten während der Corona-Pandemie, höchstwahrscheinlich da versorgungsrelevante Bereiche weitgehend von pandemiebedingten Schließungsmaßnahmen ausgenommen waren.

Insofern deutet sich an, dass eine finanzielle Besserstellung allein das deutliche Defizit an wahrgenommener gesellschaftlicher Anerkennung bei systemrelvanten Tätigkeiten nicht beheben kann. Vielmehr ist es wohl notwendig, die Arbeitsbedingungen und auch den gesellschaftlichen Diskurs über den Beitrag von systemrelevanten Berufsgruppen zu einem gelungenen Zusammenleben stärker in den Blick zu nehmen. Allerdings deutet die größere Streuung der finanziellen Situation von Personen in systemrelevanten Tätigkeiten darauf hin, dass zumindest in einigen systemrelevanten Berufsgruppen eine bessere Bezahlung durchaus angezeigt ist. Das dürfte vor allem die Pflegeberufe, aber auch den Bereich gering qualifizierter, aber hochgradig versorgungsrelevanter Tätigkeiten zum Beispiel in der Logistikbranche (so genannte “Basisarbeit”) betreffen.

Ausblick- Ausgehend von diesen ersten Befunden werden wir im nächsten Schritt genauer untersuchen, welche spezifischen Berufsgruppen sich selbst eher als systemrelevant wahrnehmen, und inwieweit diese heterogenen Wahrnehmungen auf beruflicher Ebene mit Unterschieden in der wahrgenommenen Anerkennung in Zusammenhang stehen. Besondere Aufmerksamkeit werden wir gerade vor dem Hintergrund der Befunde zur ausgeprägt heterogenen finanziellen Situation von systemrelevant Erwerbstätigten auf den Bereich der versorgungsrelevanten Basisarbeit legen. Mehr dazu berichten wir demnächst an dieser Stelle.

Literaturverweise

Burstedde, Alexander; Seyda, Susanne; Malin Lydia; Risius, Paula; Jansen, Anika; Flake, Regina & Werner, Dirk. 2020. Versorgungsrelevante Berufe in der Corona-Krise: Fachkräftesituation und Fachkräftepotenziale in kritischen Infrastrukturen, KOFA-Studie, No. 1/2020, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA), Köln.